Gefährlich: Wenn nur der Ausschnitt zählt, aber nicht das Ganze

Gefährlich: Wenn nur der Ausschnitt zählt, aber nicht das Ganze

Kennen Sie das? Manchmal bleiben Erfolge trotz intensivem Nachdenken, sorgfältiger Planung und der Festlegung einzelner Schritte dennoch aus. Woran mag das dann liegen? Ich versuche, Ihnen eine Antwort zu geben. Sie liegt nahe, soviel kann ich schon vorwegnehmen.

Manche Menschen essen viel und häufig Früchte und Gemüse, um sich gesund zu ernähren. Zum Beispiel Erdbeeren im Winter, Avocados zu jeder Zeit oder auch Fisch aus fernen Gewässern – alles in dem Gefühl, etwas Gutes für die Gesundheit zu tun.

Andere wiederum setzen auf Elektromobilität, kaufen ein E-Auto oder E-Fahrrad und tragen so direkt (und für alle sichtbar) zur Reduzierung der Luftverschmutzung bei.

Im Krankenhaus wird in der Behandlung der Patienten in der Regel auch mit großem finanziellem und technischem Aufwand alles getan, was zur Gesundung des Patienten beiträgt.

Und: In einem Unternehmen stimmen die Umsätze nicht. Deshalb wird die gesamte Energie darauf gerichtet, mehr zu verkaufen und so die Zahlen wieder in Ordnung zu bringen, um die Unternehmenszukunft zu sichern.

Ausschnittbetrachtung

So weit, so gut und für den jeweiligen Anlass – Gesundheit, Umwelt, Zahlen – mag die gewählte Maßnahme auch richtig und nachvollziehbar sein.
Vergrößert man jedoch den Blickwinkel und treten weitere Fakten hinzu, verändert sich das Bild, seine Bewertung und die Sinnhaftigkeit der gewählten Lösung:

  • Der Herstellung der Erdbeeren in einem südlichen Land zapft dort nicht nur die oft knappen Wasserreserven an, sondern verursacht beim Transport erhebliche Kosten und eine entsprechende Luftverschmutzung.

    Die Produktion einer einzigen Avocado verbraucht Unmengen an Wasser, das für andere wichtige landwirtschaftliche Zwecke nicht mehr zur Verfügung steht – ganz abgesehen von der Abholzung der Wälder, um Avocados anzubauen. Das Angebot bestimmter Fische aus entfernten Meeren verursacht dort oft Überfischung und in jedem Fall ebenfalls erhebliche Transportkosten.
  • Kaum jemand schaut darauf, welche Umweltbelastungen die Herstellung eines Elektroautos hervorruft, insbesondere die Produktion der Batterien. Ich habe mal gehört, der „ökologische Fußabdruck“ eines Elektroautos entspricht erst nach 7 Jahren dem eines herkömmlichen KFZ. Ganz zu schweigen davon, dass die Entsorgung der schadstoffhaltigen Batterien nach wie vor nicht geklärt ist.
  • Aktuell steigt wieder die Zahl der Corona-Infizierten. Die in der Diskussion stehenden Maßnahmen mögen sinnvoll sein – berücksichtigen diese aber auch deren Auswirkungen, z.B. auf die Psyche der Menschen? Zuverlässige Studien hierzu gibt es bereits.
  • Die einseitige Konzentration auf eine Unternehmensperspektive führt in aller Regel zur Vernachlässigung anderer. Eigentlich eine Binsenweisheit. Das mag zeitweilig gut gehen – langfristig kann der Schaden größer als der Gewinn sein.

    Was unterscheidet Familienunternehmen von management-geführten Unternehmen? Beide sind (auch) zahlengesteuert – aber die einen schauen vor allem in die Zukunft und den Erhalt, die anderen vor allem auf Quartalsergebnisse – egal, wie diese entstanden sind. Einmal ein (bisweilen notwendiges) finanzielles „Tal der Tränen“ zu durchschreiten gehört für Familienunternehmen zur Langfriststrategie, in einem managementgeführten Unternehmen kann es den Kopf des CEO’s kosten.

Das Thema in allen Beispielen heißt „Ausschnittbetrachtung“: Man sieht nur einen Teil, einen Ausschnitt, der in der jeweiligen Situation im Fokus steht, bezieht aber nicht den größeren Zusammenhang in die Betrachtung mit ein. Das kann, trotz bester Absicht, üble Folgen haben. Denn: Wer einen Stock aufhebt, hebt immer beide Enden des Stockes auf.

Das Leck auf der „anderen Seite“

Ein anderes Bild illustriert das noch besser: Es zeigt drei Personen in einem Boot: Die eine rudert, die beiden anderen sitzen ihr gegenüber. Auf der Seite des Ruderers hat das Boot ein Leck. Wasser dringt ein, es neigt sich und droht, unterzugehen. Sagt eine der beiden Personen, die dem Ruderer gegenübersitzen, zu seinem Nachbarn: „Bloß gut, dass das Leck nicht auf unserer Seite ist!“ Die Botschaft aus diesem Bild ist eindeutig: Alles hängt mit allem zusammen, wenn das Boot sinkt, ist es unerheblich, ob man auf der Seite des Bootslecks sitzt oder auf der anderen.

Deshalb sind wir gut beraten, die Aufmerksamkeit, so weit wie möglich, immer dem Gesamtsystem zu schenken: Wenn ich das mache, was könnte ich dann auslösen? Will ich das, kann ich das vertreten? Andernfalls kann sich im schlimmsten Fall unsere gute Absicht ins Gegenteil verkehren. Die Erweiterung der Betrachtung bewahrt nicht in jedem Fall vor Schaden, beugt aber vor und führt in aller Regel zu nachhaltigeren und kreativeren Lösungen.

Die Folge der Ausschnittbetrachtung

Sonst kann beispielsweise Folgendes passieren: Eines unserer Kundenunternehmen befindet ich in einer bedrohlichen Lage, es sind Hunderte von Arbeitsplätzen gefährdet. Diese Situation ist auch eine Konsequenz daraus, dass in der Vergangenheit viele ausschnittbasierte Entscheidungen getroffen und das Ganze zu wenig beobachtet und in die Überlegungen einbezogen wurde. Ein anderer Kunde hat tiefgreifende Veränderungen im Unternehmen vor, denn die „Zahlen müssen stimmen (also „besser“ werden)!“, wobei das Unternehmen durchaus nicht defizitär arbeitet.

Der Faktor „hochspezialisierte Mitarbeiter“ und der sorgsame Umgang mit ihnen spielt bei den angestrebten Veränderungen leider eine nachrangige Rolle, alles wird den Zahlen untergeordnet und die Organisationsarchitektur steht im Vordergrund. Die ersten Fachkräfte haben das Haus schon verlassen – wer soll jetzt noch die Zahlen in Ordnung bringen?

Warum ist es so schwierig den Blick zu weiten?

Aber warum neigen Menschen zu solchen Ausschnittbetrachtungen? Ist es denn überhaupt möglich, einen großen weiten Blick bei Entscheidungen z.B. über Veränderungen zu haben? Wie weit kann dieser Blick denn sein, und was braucht es dafür?

Wir Menschen können durchaus auch komplexere Zusammenhänge verstehen und Konsequenzen möglichen Verhaltens meist zutreffend einschätzen. In vielen Entscheidungen unseres Alltags beziehen wir ja auch mehrere Parameter mit ein, weil wir wissen, dass uns andernfalls Schaden drohen kann.

Allerdings ist es auch richtig, dass man nicht ständig die ganze Welt im Auge behalten kann und wir bei der Verarbeitung von Komplexität alles andere als uneingeschränkt sind. Wir können eben nur einen gewissen Rahmen in unsere Überlegungen einbeziehen – aber der ist fast immer größer, als er berücksichtigt und betrachtet wird.

„Bedenkenträger“ will niemand sein


In Unternehmenskontexten spielen auch noch „politische“ Aspekte eine Rolle: Kaum jemand will, wenn er noch weitere zu berücksichtigende Punkte in eine Entscheidung einbringt, als Bedenkenträger abgestempelt werden und schweigt lieber.

Der Hinweis auf weitere Aspekte in einem Kontext kann sich dem in der Organisation herrschenden Meinungsmainstream entgegenstellen und die eigene Position in der Organisation gefährden. Die Macht des Mainstreams kann erdrückend wirken.

Ein paar grundsätzliche Dinge kann man sich aber immer vor Augen führen:

Bei allem, was ich tue bzw. entscheide, berühre ich andere, löse ich einen Impuls in andere Systeme hinein aus.

Welchen Einfluss hat meine Entscheidung auf das Gesamtsystem?

Es ist einfach naiv zu glauben, dass dem nicht so wäre. Es kann deshalb beispielsweise im Unternehmenskontext durchaus sinnvoll sein, einen nicht gewinnbringenden Betriebsteil zu erhalten, weil die Leistung dieses Teils das Gesamtangebot des Unternehmens einmalig im Markt macht. Da wäre Schließen trotz schwacher Zahlen nicht sinnvoll, wenn dadurch das gesamte Unternehmen im Markt gefährdet wird.

Ein Einsatz von (nicht direkt abrechenbaren) psychologischen Fachkräften im Krankenhaus kann durchaus zu einer schnelleren Genesung der Patient*innen und zu einer kürzeren kostenintensiven Verweildauer führen. Körper und Psyche gehören bekanntlich zusammen und wirken aufeinander – wahrlich keine neue Erkenntnis. Wird ein neues Entlohnungs-/ Belohnungssystem im Betrieb eingeführt, lohnt es vorher zu schauen, welchen Einfluss das auf den Zusammenhalt, den Teamgeist und die Arbeitsqualität hat.

Wenn ich einen Zaun um mein Land baue, löse ich nicht das Flüchtlingsproblem, sondern verschärfe es mit Auswirkungen auf und für die ganze Welt – zu der ich auch gehöre.

Am Anfang steht die Bereitschaft

Es ist also ratsam, nicht nur den Ausschnitt, sondern möglichst viel vom Ganzen in Betracht zu ziehen und immer auch die Frage zu stellen: Wer wird von dieser vorgesehenen Handlung/Entscheidung berührt, inwiefern, mit welchem vermutlichen Ergebnis und Konsequenzen für mich und andere, und ist das von mir so gewollt? Inwieweit kann ich ggf. korrigierend eingreifen? Dafür braucht es die Bereitschaft, den Blick zu weiten, um nicht der Verführung schneller (und zunächst scheinbar ertragreicher) Entscheidungen zu erliegen, die später negative Konsequenzen nach sich ziehen.

Im einen oder anderen Fall kann künstliche Intelligenz vielleicht unterstützen. Computer sind nun einmal in der Lage, Unmengen von Daten zu verarbei­ten und Ergebnisse als Grundlage für Entscheidungen zu liefern. Wobei es ausschlaggebend ist, wie man sie programmiert und was man in sie hineinfüttert: Garbage in, garbage out. Sie aber entscheiden zu lassen, kann fatal sein.

Schöne Beispiele sind hier Familienunternehmen: Sie berücksichtigen bei ihren Entscheidungen nicht nur die nächsten drei Monate, wie etwa Kapitalgesellschaften, sondern die nächsten Jahre. Schließlich sollen die Kinder einmal das Unternehmen fortführen und deshalb sollte es dann auch noch existieren.

Wann ist eine Ausschnittbetrachtung sinnvoll?

Ich habe gehört, dass es Unternehmen gibt, welche ihre Callcenter Agents angewiesen haben, die Anrufer so zu behandeln, dass deren Anliegen möglichst im ersten Gespräch zufriedenstellend gelöst bzw. bearbeitet wird, selbst wenn es länger dauern sollte. Denn sonst rufen die Kunden noch mehrmals an und kosten so wesentlich mehr Zeit – klassische Ausschnittbetrachtung! Zusatznutzen:  Positiver Werbeeffekt, denn bekanntlich erzählt die eine ihre Erfahrungen gern auch anderen.

Ohne relativieren zu wollen – es kann auch Sinn ergeben, sich auf einen Ausschnitt zu konzentrieren und kurzzeitig den Blick zu verengen. Beispielsweise in der Meditation, wo man sich völlig auf sich selbst konzentriert. Oder wenn ich irgendwo körperliche Schmerzen habe und mich darauf konzentriere, anstatt zu fantasieren, wann davon wohl der ganze Körper befallen sein wird, und ich dahinhinscheiden werde. Oder wenn mein Kind eine (scheinbar) unlösbare Mathematikaufgabe hat und Sie sich gemeinsam mit ihm völlig auf die Lösung konzentrieren – den größeren Zusammenhang (hat im Unterricht nicht aufgepasst) können Sie dann auch später klären.

Wir wünschen Ihnen einen gelingenden Jahresendspurt, und wenn Sie einmal den Blick in die Weite schweifen lassen wollen – Sie wissen ja, wo Sie uns finden!

Viele Grüße,

Thomas Zimmermann

und das Team von synthesis