Bitte haben Sie Verständnis!

Bitte haben Sie Verständnis!

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich gebe es zu: Ich fahre immer noch Auto, schon seit Jahrzehnten. Und meistens auch noch mit Spaß, z.B. bei den langen Fahrten nach Südfrankreich. Bei diesen Reisen ist mir das Auto unersetzlich, wie könnte ich sonst die vielen köstlichen Sachen von dort mit nach Hause nehmen. Da hätte ich in keinem anderen Verkehrsmittel eine Chance.

Auch hier in Berlin schätze ich mein Auto, es gibt mir u.a. die Möglichkeit, mich dann fortzubewegen wann ich will, es verkürzt die Fahrzeit zum Büro um 2/3 gegenüber öffentlichen Verkehrsmitteln, ich kann Sperrmüll damit wegbringen und Getränkekisten herbeischaffen u.v.m. – immer zu einem von mir gewählten Zeitpunkt. Ich weiß, dass ich damit völlig aus der Zeit falle (zumal es kein Elektro-Auto ist) und schwere Schuld auf mich lade wegen der Abgase. Dennoch:

Bitte haben Sie Verständnis!

Natürlich gibt es auch einige Nachteile beim Autofahren: Beispielsweise ist es oft schwierig, in der Innenstadt einen Abstellplatz für das Auto zu finden. Häufig steht man im Stau, auch auf der Autobahn, und treibt so die Luftverschmutzung nach oben und die Reisezeit in die Länge. Ich richte dann mein Augenmerk darauf, ob ich arbeitende Menschen bei den Straßenbaustellen entdecke, häufig ohne Erfolg. Dann darf/soll ich mich auch nicht aufregen, denn gleich nach Ende der Baustelle steht ein Schild:

Wir danken für Ihr Verständnis! Woher wollen die wissen, dass ich Verständnis für die vermutliche Notwendigkeit dieser Baustelle habe?

Funktioniert bei Ihnen die Müllabfuhr pünktlich und regelmäßig, genauso wie Sie pünktlich und regelmäßig Ihre Gebühren dafür bezahlen? Bei uns nicht. In diesem Jahr wurde bislang spätestens jede zweite Woche eine oder mehrere Tonnen (Papier, Wertstoff, Restmüll etc.) nicht geleert. Erklärung des Entsorgungsunternehmens: Corona, Grippe, Personalmangel usw. Sie können ankreuzen, welche dieser Erklärungen Ihnen am besten gefällt.

Nur werden dadurch die Tonnen nicht geleert, Ihr Portemonnaie schon, denn selbstverständlich rangiert das unter „höherer Gewalt“, und da gibt es dann keine Erstattung für nicht erbrachte Leistung. Ähnliches gilt oft auch bei Behörden: Zu wenig Personal, Grippe, Corona, home office usw.: Es tut uns wirklich leid, dass wir Ihnen nur einen Termin in weiter Ferne anbieten können:

Bitte haben Sie Verständnis!

Und jetzt verrate ich Ihnen etwas: Nein, ich habe kein Verständnis! Und ich bin mittlerweile auch so weit, dass ich gar kein Verständnis mehr haben will! Weil ich keine Lust mehr habe, organisatorische Unfähigkeit zu ertragen, indem sich die Verantwortlichen nicht um eine bestmögliche Lösung vorab bemühen, sondern sich mit der Bitte um Verständnis aus ihrer Verantwortung stehlen: Bitte haben Sie Verständnis für meine Unfähigkeit, meinen Unwillen oder was auch immer.

Und wenn nicht, ist es mir auch egal. Denn es ist nun einmal einfacher, schnell eine „Entschuldigung“ zu formulieren als die Zeit für die Suche nach einer Lösung zu investieren.

Verständnis und seine Geschwister

Was ist das eigentlich, Verständnis?

Im Wort findet sich das Verb „verstehen“, was bedeutet, dass ich die Beweggründe einer anderen Person, die Ursachen einer Situation nachvollziehen und verstehen kann. Das setzt voraus, dass ich mir die hierfür erforderliche Mühe mache und auch verstehen will – sonst habe ich kein Verständnis. Als verstärkte Form könnte man die Empathie bezeichnen, die noch tiefer geht.

Ein weiteres Geschwister des Verständnisses ist die Akzeptanz: Ich kann sehr wohl aus dem Kontext einer bestimmten Situation heraus verstehen und vielleicht auch nachvollziehen, dass ein Mensch einem anderen etwas Gutes tut (z.B. auch unter Aufopferung seiner selbst) oder Gewalt anwendet (selbst angesichts des möglichen eigenen Untergangs dabei), aber ich akzeptiere es aus jedwelchen Gründen zumindest im vorliegenden Kontext nicht. Ist also Verstehen nicht mit Akzeptanz gepaart, bewegt sich die Aussage „Bitte haben Sie Verständnis“ auf recht dünnem Eis. Man ist dann auf die Freiwilligkeit der anderen Person und deren Bereitschaft zur Akzeptanz der Gegebenheit bis hin zum Verzeihen angewiesen.

Wann ist Verständnis möglich?

Nun fällt es beispielsweise mir viel leichter, Verständnis (und Akzeptanz) zu entwickeln, wenn ich den Eindruck habe, dass auf der anderen Seite Bemühen vorhanden ist: Bemühen, die für andere unerwünschte, gar störende Situation abzumildern und so schnell wie möglich einer Lösung zuzuführen. Sehe ich z.B. im Restaurant, dass der Service personell unterbesetzt ist und erlebe, dass sich das wenige Personal viel Mühe gibt, den Gast dennoch bestmöglich zu bedienen, habe ich sehr schnell Verständnis (und Akzeptanz) dafür, dass ich ein wenig länger auf das Essen oder das Bezahlen warten muss.

Das gilt z.B. auch bei Behörden: Wenn ich live miterlebe, dass manchen Bürger*innen ein angemessenes Benehmen gegenüber den Beschäftigten völlig abhandengekommen ist, verstehe ich auch (und kann akzeptieren), dass der/die Beschäftigte dann zu mir als dem dieser Person nachfolgenden Antragsteller vielleicht nicht ganz so freundlich ist (wäre ich nach dem vorangegangenen Auftritt auch nicht). Hier gibt es übrigens ein Wundermittel zur Entspannung der Situation: Wenn Sie die belastende Situation verständnisvoll gegenüber dem/der Beschäftigten ansprechen und so diesem signalisieren, dass sie die Besonderheit der Situation und sein daraus resultierendes Befinden sehr gut einschätzen können.

Für wen bin ich da?

Vor kurzem wechselte bei mir die Hausverwaltung und die neue Hausverwaltung warb für sich u.a. damit, dass sie 24/7 für die Kunden da sei. Ich war begeistert, aber nur so lange bis ich feststellte, dass sie rund um die Uhr nur über eine Plattform im Internet erreichbar ist, auf der man sein Anliegen schriftlich äußern kann. Die tatsächlichen Sprechzeiten mit direktem persönlichem Kontakt belaufen sich auf zweimal zwei Stunden pro Woche.

Wenn ich jetzt einen erheblichen Schaden zu melden habe, kann ich warten, bis jemand (wenn überhaupt) meine Nachricht gelesen hat. Erklärung: Wir sind so wenig Leute angesichts des Arbeitsvolumens, da können wir nicht auch noch ans Telefon gehen. Bitte haben Sie Verständnis!

Haben Sie in letzter Zeit mal versucht, einen Arzttermin zu vereinbaren? In den meisten Fällen werden Sie auf das Internet oder Doctolib hingewiesen. Ein persönlicher Kontakt, bei dem man vielleicht klären kann, ob ein Besuch in der Praxis wirklich nötig ist, wird einem oft möglichst schwer gemacht: Das Einzige, was stört, ist der Patient. Zu wenig Personal, bitte haben Sie Verständnis.

Benötigen Sie ein persönliches Beratungsgespräch bei der Rentenversicherung Bund? Dafür gibt es in Berlin noch eine große Beratungsstelle am Fehrbelliner Platz. Die ist aber seit Corona nicht mehr in Betrieb. Wenn jemand also eine besondere Frage hat und dazugehörende Unterlagen einer Fachkraft im Sinne einer raschen Klärung zeigen will, hat sie/er es schwer. Persönliche Kontakte gibt es nur in absoluten Ausnahmefällen. Corona, bitte haben Sie Verständnis – wobei Corona nach meinem Kenntnisstand als weitgehend „erledigt“ gilt.

Ihr Flug wurde storniert (ohne dass Sie wissen, weshalb)? Der Zug hat erhebliche Verspätung oder fährt gar nicht? Bitte haben Sie Verständnis.

Da stellt sich bei mir die Frage: Ist der Kunde/Beitragszahler/Patient etc. für die Organisation da oder die Organisation für den Kunden/Beitragszahler/ Patienten etc.? Es haben sich im Verlauf der Coronakrise so manche Rituale, Prozesse eingestellt, die genau diesen Fokus auf den, der bezahlt, aus dem Blickfeld geraten ließen. Ich erlebe in den Kundenunternehmen, wie schwer es ist, Beschäftigte vom home office wieder zurück an den Arbeitsplatz zu holen: Oft eine Herkules-Aufgabe.

Eine der interessantesten Begründungen, weshalb eine Rückkehr an den Arbeitsplatz nicht möglich ist, hörte ich vor einigen Tagen: „Ich habe in der Corona-Zeit einen Hund gekauft. Der kann unmöglich alleine zu Hause bleiben. Deshalb kann ich nur noch home office machen!“ Das war übrigens von der Mitarbeiterin ernst gemeint.

Ich habe Verständnis!

Ich habe Verständnis für eine unausgeglichene Situation, wenn beispielsweise
ich Anstrengung sehe und erkenne,

  • dass die andere Seite an einer raschen Problembeseitigung arbeitet;
  • die Dauer mit dem Bemühen um eine bestmögliche Leistungsqualität zusammenhängt;
  • die Ursache für die Situation für die andere Seite nicht vorhersehbar war, sich um ein nicht zu beeinflussendes Ereignis oder gar einen Schicksalsschlag handelt;
  • wenn ich z.B. bei ausbleibender Lieferung einen Ersatz bekomme;
  • die andere Person sichtlich überfordert ist, an ihre Grenzen kommt und/oder in einer besonders herausfordernden persönlichen Lebenssituation befindet;
  • wenn mir für mich nachvollziehbar erklärt wird, weshalb sich die Situation so darstellt,

aber nicht, wenn ich Verständnis haben soll/muss!

Kurzum: Wenn ich Bemühen erkenne und der Satz „Bitte haben Sie Verständnis“ nicht dem Zudecken eigener Unfähigkeit oder Unwillen geschuldet, sondern ehrlich gemeint ist und/oder im Zusammenhang mit schicksalshaften Ereignissen steht.

Ansonsten erwarte ich, dass Leistungen, für die ich bezahlt habe (Ämter mit meinen Steuern) oder noch bezahlen muss, z.B. auf Basis von Rechnungen, auch erbracht werden, andernfalls mir geleistete Zahlungen erstattet werden.

Mir drängt sich der Eindruck auf, dass sich, auch durch Corona begünstigt, eine Hängematte aufgetan hat: Wenn man es nicht hinbekommt, kein Problem, der Kunde hat ja Verständnis.

Und bei Ihnen?

Dass im Unternehmen Fehler passieren und Dinge schiefgehen, ist das normalste von der Welt. Fehler können nunmal jedem/r passieren. Hier ist lernendes Verstehen angebracht: Ursachen analysieren und (neue) Wege der Lösung suchen, damit das so möglichst nicht wieder passiert.

Manchmal denke ich, dass es wichtig wäre, wenn sich alle Beteiligten in der Organisation (mal wieder) darüber klar werden, wofür die Organisation existiert (ohne Zweck keine Existenzberechtigung) und wer das Geld in die Organisation bringt. In aller Regel ist das der Kunde/Patient/Antragsteller etc.

Auf deren Bedürfnisse hat sich die Organisation und ihre Anstrengungen prinzipiell auszurichten. So besehen wird klar, dass die mit der Organisation verbundenen Leistungen zu erbringen sind und die Bitte um Verständnis bei Einschränkungen oder deren Ausbleiben die seltene Ausnahme sein muss.

Wichtig ist dafür auch oft der persönliche Kontakt mit dem Kunden, die persönliche Erreichbarkeit von Mitarbeitenden aus der Organisation für ihn – und nicht irgendwelche Call Center oder Plattformen.

Wenn wir beispielsweise unsere vertraglich vereinbarten Beratungsleistungen bzw. Trainings, aus egal welchen Gründen, nicht erbringen und dann dem Auftraggeber sagen: „Es hat leider nicht geklappt, bitte haben Sie Verständnis, Rechnung folgt“ wird von Seiten des Auftraggebers unsere Zurechnungs-fähigkeit (berechtigt) angezweifelt. Bezahlt wird auf jeden Fall nicht.

Wenn Sie zum Thema einen Austausch suchen – dafür sind wir da und haben vollstes Verständnis. Sie wissen ja, wo Sie uns finden.