Leben ist, was man draus macht.

Leben ist, was man draus macht.

Wenn man auf der A 2 – die gibt es nicht nur bei uns – von Kapstadt Richtung Hermanus fährt, sieht man, beginnend ab dem Flughafen, auf der rechten Seite ein „Human Formal Settlement“, häufig auch, fälschlicherweise, als Township bezeichnet, das sich kilometerweit entlang eben dieser Autobahn hinzieht. Wellblech- und Holzhütten reihen sich – oft einander stützend – aneinander, alle überdeckt von einem Gewirr von Stromkabeln. Würde man in einer solchen Hütte in Deutschland Tiere unterbringen, könnte es gut sein, dass man es alsbald mit dem Tierschutzverein zu tun bekommt. Hier aber wohnen Menschen, sehr viele Menschen, viele davon illegal aus Nachbarländern über die „grüne Grenze“ kommend auf der Suche nach Überleben und vielleicht auch ein wenig Lebensglück. Der Luxus dieser Siedlungen besteht aus einer Wasserleitung, dem bereits erwähnten Strom und mobilen Toiletten, viele, aufgereiht in langen Schlangen, eine neben der anderen und in kaum einem besseren Zustand als die Wohnhütten. Die Menschen in ihrer bunten Kleidung hellen das graue Bild ein wenig auf.

Auf dieser Autobahn A 2 fahren auch Minibusse, die für kleines Geld die Menschen in die besseren Wohngegenden bringen, wo viele Frauen stundenweise in den Haushalten arbeiten und die Männer versuchen, sich als Tagelöhner zu verdingen. Wenn die Männer einen Job bekommen, erhalten sie dafür einen Tagessatz von R 150 (etwa € 13,50), wobei der Auftraggeber die Länge des Arbeitstages bestimmt. Oft bekommen sie keinen Job und damit auch kein Geld für ihre Familien und sich. Diese Kleinbusse halten, um ihre Fahrgäste aufzunehmen oder aussteigen zu lassen, auf dem Standstreifen der stark befahrenen Autobahn (Limit 120 km/h), und die Fahrgäste überqueren dann zu Fuß die Autobahn, um ihre Hütten zu erreichen. Häufig wird dabei auch jemand überfahren, diese Unfälle enden für den Fußgänger in der Regel tödlich. Dann kommt die Polizei, wirft eine Decke über den Toten und wartet auf den Leichenwagen, der den oft illegalen Namenlosen mitnimmt, das übliche Tagesgeschäft.

Wirft man jetzt noch einen Blick auf die Korruption in diesem Land, könnte man als Westeuropäer verzweifeln. Der Korrupteste von allen ist der Staatspräsident Jakob Zuma, der für 2,5 Mio. Euro sein Privathaus auf Staatskosten umbauen ließ und natürlich (auf Staatskosten) für seine 18 von ihm anerkannten Kinder und seine 4 Ehefrauen mit ebensolchen Häusern und entsprechendem Personal sorgt. Ein nicht gerade dünnes Buch, welches seine Korruptheit beweist, erschien soeben auf dem südafrikanischen Büchermarkt. Er wollte es verbieten lassen, aber die Gerichte sprachen das von ihm gewünschte Verbot nicht aus, was auf einen Rest Demokratie hoffen lässt. Ansonsten kümmert sich die Regierung wenig um die eigene schwarze Bevölkerung und deren Lebenssituationen. Viele verzweifeln nicht, einige schaffen es doch, und so ist eine noch sehr kleine, aber stets anwachsende schwarze Mittelschicht zu beobachten, die ihre Lebensbedingungen ständig verbessert und, man staune, gute und oft auch große Steinhäuser gerade in ihren angestammten Wohnsiedlungen, den Townships, baut, weil sie den Kontakt zu ihren Familien und ihrem sozialen Netzwerk nicht verlieren wollen.

Auf der anderen Seite ist das Gras doch grüner!

Auf der buchstäblich anderen Seite stehen die Wohnviertel der Weißen, die wirtschaftlich besser gestellt sind (was durchaus nicht für alle Weiße zutrifft!). Zunehmend mehr siedeln sich hier aber auch Farbige und Schwarze an, die der neu entstehenden Mittelschicht angehören. Gepflegte Häuser und Gärten in großer Pflanzen- und Blütenpracht sind zu sehen, gerade am Kap auch viele Weingüter, die schon mit ihren Auffahrten und den parkähnlich angelegten Grundstücken den Besucher beeindrucken und begeistern. Hier gibt es viele Arbeitsplätze für Schwarze, und ich habe mir mehr als einmal überlegt, wie diese den Kontrast zwischen ihren Lebensumständen und den Bedingungen der Weißen für sich verarbeiten. Diejenigen, mit denen ich Kontakt hatte, haben sich für eine Mischung aus Stolz (ich bin schwarz!), vielfältigen sie unterstützenden Sozialkontakten und Humor auch im Umgang mit ihren Lebensumständen entschieden. Was die meisten nach meinem Eindruck jedenfalls nicht wollen, ist Mitleid.

Mir ist darüber hinaus aufgefallen, dass viele dieser Menschen, die teilweise unter menschenunwürdigen Umständen leben sowie die, die den Weg daraus geschafft haben, etwas können, was ich bei uns oft vermisse: Sie können sehr gut (zugegeben oft gezwungenermaßen) mit sich ständig wechselnden Lebensbedingungen umgehen, und sie haben meist eine mehr positive als negative Sicht auf ihre Lebensumstände und deren Entwicklung bzw. Veränderung. Würden sie sich auf das Klagen konzentrieren, hätten sie kaum eine Chance. Stattdessen richten viele ihr Augenmerk auf das, was aus ihrer Sicht geht, um nicht an dem zu zerschellen, was nicht geht.

Mir fiel auf, dass sich die Menschen am Kap jeden Tag ihrem nicht gerade unproblematischen Leben stellen. Ein deutscher AiP (Arzt im Praktikum) sagte mir bei einem früheren Besuch in Kapstadt, dass er dort sein Praktikum auch deswegen absolviere, weil es nirgendwo sonst so schöne Schussverletzungen gebe wie in Südafrika. Ärztehumor. Die Menschen können sich diesem Leben stellen, weil sie eine entsprechende Einstellung gewonnen haben und sicher in anderen Kategorien denken als wir. Viele Menschen in unserem Land werden getrieben von einem starken Sicherheitsbedürfnis, das so gar nicht recht zu den labilen und ungewissen Wirtschaftsbedingungen passen will. Aber Sie werden sich sicher an einen der letzten Unternehmerbriefe erinnern: Die Krise ist der Normalfall, nicht die Ausnahme! Wird das Sicherheitsbedürfnis nicht von der subjektiv wahrgenommenen wirtschaftlichen Realität bestätigt, kann Angst („German Angst“) entstehen, die dem Einzelnen Energie abzieht und ihn in Folge lähmen kann.

Das Leben annehmen und gestalten!

Mein Eindruck war auf dieser Reise, dass viele Menschen in Südafrika – durchaus nicht resignierend – ihr Leben annehmen, es auch in die eigene Hand nehmen und immer mehr danach schauen, wie sie es verbessern können. Ähnliche Eindrücke hatte ich auch von den Menschen auf meinen Mongoleireisen. Sie wissen um die Sorgen und auch Risiken und richten dennoch ihr Augenmerk auf das Machbare in ihrem persönlichen Kontext.

Und wie ist das bei uns? Nehmen wir, die Menschen in Deutschland, unser Leben an, so wie es ist? Sind wir willens und in der Lage, das Erreichte wertschätzend zu betrachten und uns darüber zu freuen? Können wir dafür, dass es uns im europäischen Vergleich sehr gut geht, dankbar sein? Sehen wir in unserer Zukunft vor allem die Möglichkeiten und Chancen oder doch mehr die Risiken und Gefahren (und schränken damit unsere Handlungsmöglichkeiten ein)? Was nicht heißt, kritiklos in grenzenloser Dankbarkeit zu verstummen! Sondern heißt, neue Perspektiven einzunehmen und entsprechende Aktivitäten zu entwickeln!

Ich bin mir sicher, dass wir in den nächsten Jahren das Heil weniger im vielbeschworenen Wachstum als vielmehr im Erhalt des Erreichten sehen werden (Geldanleger wissen, was gemeint ist). Ich bin mir sicher, dass die sozialen (Familien-) Beziehungen wieder einen größeren Stellenwert bekommen. Ich bin mir sicher, dass wir auch in den Unternehmen künftig noch größeren Wert auf die Qualität des Miteinanders legen werden. Ich bin mir sicher, dass wir lernen werden, wieder mit mehr Unsicherheiten gerade auch unseres sozialen Systems zu leben und lernen, mit diesen Unsicherheiten konstruktiv umzugehen. Und ich bin mir sicher, dass wir das alles mit einer gewissen Freude machen werden, weil es offensiv und nicht angstbesessen ist, weil wir uns selber in diesen Prozessen mehr spüren werden, weil wir mehr mit den Wurzeln des Lebens und den Fährnissen in Kontakt kommen und weniger irgendwelchen Bildern hinterherlaufen, die uns als Ideal erscheinen oder als solches verkauft wurden.

Für viele Unternehmen, so denke ich, wird es auf einen Kulturwandel hinauslaufen:

Statt die Menschen mit immer größeren (und oft illusorischen) Wachstumszielen zu konfrontieren und in psychische und körperliche Probleme zu treiben, welche dann zu ihrem Ausfall führen, werden moderatere und realistischere Ziele vereinbart und nicht unter dem Deckmantel der Zielvereinbarung vorgegeben. Man wird sich dem einzelnen und seinen Fähigkeiten mehr widmen und dafür sorgen, dass diese Fähigkeiten dem Unternehmen zugute kommen. Schon allein deswegen, weil die Demographie Fachpersonal in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr frei verfügbar bereitstellen wird. Umgangston und Umgangsformen werden von mehr Wertschätzung geprägt sein als dies bislang an vielen Stellen der Fall ist. Und hoffentlich erfahren auch Erfolge noch mehr Freude und auch Dankbarkeit. Auch die Zufriedenheit wird, so hoffe ich, zulasten der Nörgelei bei allen Beteiligten im Unternehmen einen neuen Wert bekommen. Kurzum: Der Aspekt der Qualität wird mehr Bedeutung vor dem der Quantität bekommen. Schön wäre es auch, wenn insbesondere die Verantwortlichen im Unternehmen die Unwägbarkeiten und Unberechenbarkeiten von Systemen mehr akzeptieren und noch mehr lernen, flexibel mit ihnen umzugehen, was allerdings die Relativierung einiger ihrer Glaubenssätze über das System bedeuten würde. Auf der Habenseite wären u.a. sowohl Spannung wie Entspannung als auch Erfolg zu verbuchen.

Alles illusorisch? In gewisser Weise schon, zumindest noch. Das sollte aber niemand davon abhalten, und hier denke ich ganz besonders an die Führungskräfte, in diese Richtung zu denken. Entgegen Ihren Vermutungen, die Sie vielleicht beim Lesen dieser Zeilen beschleicht, sind diese Gedanken nicht bei einer meiner Weinproben (die südafrikanischen Weine sind Weltklasse!) entstanden, sondern deutlich danach bei der Reflexion der Reise hier in Berlin. Allerdings tragen der hervorragende Wein und das nicht minder gute Essen der ebenso hervorragenden Gastronomie durchaus dazu bei, besonders schöne Lebensgefühle zu entwickeln und eben daraus auch einmal die Perspektiven zu wechseln. So möchte ich anregen, dieses wunderschöne und sehr spannende Land einmal zu besuchen und sich selbst von den Realitäten dort zu überzeugen: Die Kontraste regen zum Nachdenken an!

Für das nun beginnende Jahr 2013 wünsche ich Ihnen alles Gute, vor allem Gesundheit, und sehe auch in der Ungewissheit unserer Zukunft eine gute Gelegenheit und auch Chance, die eigenen Einstellungen und Denkhaltungen zu erweitern und zu verändern. „Der Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung wechseln kann (Francis Picabia)“: Dabei wünsche ich Ihnen viel Spaß und viele Erkenntnisse!

Herzliche Grüße
Ihr

Thomas Zimmermann
und das Team von synthesis

PS: Für diejenigen, die einigen Menschen in Afrika den Weg zur Selbsthilfe ein wenig ebnen wollen, habe ich eine Information zu den „Häusern der Hoffnung“ beigelegt. Es handelt sich um eine private Bildungsinitiative, die jungen Mädchen und Frauen die nachhaltige Möglichkeit einräumt, nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung ihres Lebens selbst in die Hand zu nehmen. Lesen Sie selbst, ich versichere Ihnen die Seriosität des Projektes.