Macht denn hier jeder, was er will? 

Macht denn hier jeder, was er will? 

Konflikte wohin man schaut.

Es scheint so, und das ist nicht gut. Genauer: Seit Wochen erlebt Deutschland von Arbeitsniederlegungen in Serie: Seien es die Lokführer, das Sicherheits-personal an den Flughäfen, das Fachpersonal in den Arztpraxen oder die Ärzte selbst, die einfach einen Behandlungstag streichen – die Auswirkungen sind gravierend und treffen in ihren Auswirkungen immer größere Bevölkerungsgruppen.  
 
Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat eine Auswertung vorgenommen, wonach 2023 nach Jahren erstmals wieder eine besonders hohe Anzahl an Streitpunkten zwischen den Tarifparteien vorkam und spricht von einem Höchststand. 2024 wird es nicht vermutlich nicht weniger, und manch einer fragt sich: Wo, wann und von wem geht der nächste Streik aus? 

Nicht ohne Folgen 

Nicht nur Streiks hatten und haben erhebliche Auswirkungen auf unser Gemeinwesen. Im vergangenen Jahr konnten wir erstmals neuartige und erhebliche Störungen verzeichnen, die von den sogenannten Klimaklebern im täglichen Straßenverkehr ausgelöst wurden. Die waren aber fast noch harmlos gegen das, was die Bauern (gibt es überhaupt noch „die Bauern“?), und im Hintergrund, so vermute ich, die Agrarindustrie im Januar mit ihren Verkehrsblockaden durch riesige Landmaschinen anrichteten. 

Und dann gibt es noch direkte Forderungen und Angriffe gegen die Regierung: Die Gastronomie behauptet, die Rücknahme der Mehrwertsteuersenkung nicht überleben zu können, die LKW-Fahrer bzw. Speditionen wollen die Rücknahme der Mauterhöhung und, bei der Gelegenheit, Subventionen für den Diesel und blockieren die Straßen in Berlin zur Durchsetzung ihrer Forderungen usw. Übersehen wird dabei, dass es vor der jetzigen bereits andere Regierungen gab, deren politisches Handeln sich bis heute auswirkt. 

Auch die Rhetorik hat sich verändert 

Schärfe und Wortwahl in den Reden und Verlautbarungen haben eine Qualität erreicht, die kaum noch akzeptabel ist. Da gilt es, den Verantwortlichen bei der Deutschen Bahn zu vermitteln, dass, „wer nicht hören will, fühlen müsse“, da wird ein noch nie dagewesener „heißer Januar“ vom Bauernverband angekündigt usw.  
 
Man will die andere Seite in die Knie zwingen und kommt einfach nicht an den Verhandlungstisch, egal, was geboten wird. Ich habe den Eindruck, man zielt mit dem Vorschlaghammer auf den Nagel – dabei könnte man sich aber auch böse auf den Daumen hauen. Klassenkampf-Rhetorik vom Feinsten, schon lange nicht mehr so gehört- „Wir sind es wert“, tönen die einen, und wir können es nicht bezahlen, sagen die anderen.  
 
Man hat fast den Eindruck, dass es nach diesen Verbalattacken, nicht nur auf der Straße und in den Medien, sondern auch im Bundestag kein Miteinander mehr geben kann. Aber der nächste Tag kommt gewiss! 

Keine gute Kommunikation 

Und noch etwas: Die Bundesregierung macht leider seit längerem keine gute Figur und ihre Erfolge (z. B. wurden über 50% der im Koalitionsvertrag vereinbarten Punkte bereits abgearbeitet oder befinden sich in der Bearbeitung) werden nicht gesehen.  

Auch erleben wir jetzt bereits den zweiten Winter, in dem die Gasspeicher voll sind – durchaus keine Selbstverständlichkeit. Da ist es leicht, sie zum „Watschenmann“ zu benutzen und so auch von eigenen Versäumnissen abzulenken. Äußerst bedenklich finde ich die Bilder mit der Ampel am Galgen, welche nicht nur in den Demonstrationszügen mitgeführt wurden, sondern z.B. in ländlichen Gebieten im Straßenbild in den Vorgärten zu sehen sind.  

Aus Worten werden Taten – haben wir denn nichts aus der Tat gegen Walter Lübke gelernt? Oder wenn Herr Söder die Umweltministerin Steffi Lemcke als „Margot Honecker 2.0“ bezeichnet und meint, die Grünen würden so viel Mist machen, dass sie eigentlich selbst unter die Düngerverordnung fallen müssten?  
 
Ist das noch ein der politischen Auseinandersetzung angemessener Ton? 

Was sind die Ursachen? 

Die Ursachen sind vielfältig, deren Betrachtung tritt in den Konflikten leider in den Hintergrund. Unbestritten ist, dass sich die Lebenshaltungskosten für jede/n Einzelne/n seit Ende Corona aus vielerlei Gründen (Rücknahme von Subventionen, steigende Inflation und steigende Preise und vielerorts auch Mieten etc.) angestiegen sind.  
 
Dass hier ein Ausgleich gefordert wird, erscheint mir nachvollziehbar, über die Höhe ist zu beraten.  

Hinzu kommt z.B. bei den Landwirten die ausufernde Bürokratie. So hörte ich unlängst, dass industrielle Agrarbetriebe eigene Berater beschäftigen (können), die nur dafür da sind, Subventionsmöglichkeiten zu erkunden und Anträge auf Subventionen in Brüssel zu stellen. Ein bäuerlicher Kleinbetrieb ist mit dieser Bürokratie völlig überfordert und hat dafür auch keine Zeit. 

Noch eine Anmerkung zu „den Bauern“: Man muss unterscheiden zwischen den angestellten Facharbeitern in investorengesteuerten landwirtschaftlichen Großbetrieben, die aufgrund der Flächenregelung erhebliche Subventionen von Brüssel erhalten, und den Bauern, die als Unternehmer auf ihrem eher kleineren Hof leben, eigenes Land bestellen und Viehwirtschaft betreiben und davon ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Ich bin mir sicher, dass nicht wenige der Demonstranten mit den sehr teuren Landmaschinen von ihren Arbeitgebern zur Demo geschickt wurden. 

Streik als Mitgliederwerbung der Gewerkschaften 

Eine weitere Vermutung ist folgende: Über die Jahre haben die Gewerkschaften Mitglieder verloren. Die Streiks sind eine gute Möglichkeit, wieder neue Mitglieder zu bekommen, denn nur Mitglieder bekommen Streikgeld. Außerdem ist es eine gute Chance, sich als Anwalt der Interessen der abhängig den Beschäftigten zu zeigen: „Wir kämpfen für eure Interessen!“ 

Auch die Politik hat in den Jahren (und nicht erst seit 2022) Fehler gemacht, die jetzt deutlich werden. So wurde und wird beispielsweise in allen Wahlkämpfen den Wählern und Wählerinnen von allen Parteien Zusagen gemacht: „Wir sorgen dafür, dass ihr dieses oder jenes bekommt“. Einige dieser Zusagen werden dann eingehalten, vielleicht nicht immer so, wie das Wahlvolk es verstanden hat. Tatsache ist, dass die Staatsverschuldung mit den meisten Wahlversprechen nach oben getrieben wurde/wird und bei immer mehr Menschen eine Versorgungsmentalität entsteht bzw. entstanden ist: Für immer mehr „ist der Staat zuständig“.  

Grenzen der Politik 

Und der hat, oh Wunder, seine Grenzen, führt Sparmaßnahmen durch, um den Finanzkollaps zu verhindern und beschert damit bestimmten Gruppen durch Zuwendungskürzungen Entzugserscheinungen. Die sind davon gar nicht begeistert (wie das Wort nahelegt: Sie verstehen den Geist nicht oder wollen ihn nicht verstehen) und gehen auf die Straße.  
 
Nicht nur die Fähigkeit, auch die Bereitschaft für sich selbst zu sorgen, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, lassen bei kontinuierlicher Versorgung nach. Das heißt nicht, dass bedürftige Menschen keine Unterstützung mehr erhalten sollen, ganz im Gegenteil, da ist noch einiges zu verbessern!  
 
Nur: Brauchen z.B. Ehepaare mit einem gemeinsamen Jahreseinkommen von € 300.000 wirklich das Elterngeld, wenn sie ein Kind bekommen? 

Bedenkliche Symptome und viel Hass 

Was mich bedenklich stimmt ist der Hass in mancher Kommunikation und die totale Respektlosigkeit vor der anderen Person, die darin zum Ausdruck kommt. Hass ist das Ergebnis eines längeren Prozesses von gefühlter oder tatsächlicher Nichtbeachtung, Enttäuschung, Zurückweisung etc. und baut sich auf.  
 
Besonders deutlich wird er in der Kommunikation in den sogenannten „sozialen“ Medien, wo auf jede abweichende Meinung oder Aussage sofort ein Shitstorm erfolgt. Das geht dann von Beleidigungen bis hin zu Morddrohungen.  
 
Alle diese Äußerungen entziehen sich der juristischen Verfolgung, da sie anonym getätigt werden. Mutig, mutig von den Leuten, die so etwas schreiben, vor allem, weil sie sich durch die Anonymität weigern, Verantwortung dafür zu übernehmen. 

„Verständigung ist ein konflikthafter Prozess, kein harmonischer Zustand. Dazu gehört die Bereitschaft, die andere Position nicht nur auszuhalten, sondern im besten Fall für überzeugende Argumente empfänglich zu bleiben“, sagt Prof. Dr. Markus Rueger-Ladich (Universität Heidelberg) im Interview in brand 1, Heft 2/2024.  
 
Stattdessen wird, so fährt er fort, der/die andere als Person diskreditiert, die inhaltliche Auseinandersetzung bleibt auf der Strecke. Beispiele dafür gibt es viele überall. So entstehen Verhärtungen, die, wenn überhaupt, nur schwer aufzulösen sind. 

Wahrheit versus “Alternative Fakten” 
 

„Wahrheit“ wird auch gemacht und ist subjektiv, das hat uns Donald Trump am Tag seiner Inauguration 2016 gezeigt, der nach seinen Angaben „Millionen von Menschen“ beigewohnt haben. Allerdings zeigten die Fotos das Gegenteil. Wahrheit ist oft relativ und/oder subjektiv, basiert aber auf nachprüfbaren Fakten.  
 
Trumps Berater haben für den Fall, dass Fakten fehlen oder dem zum eigenen Konzept nicht passen, einen eleganten Ausdruck gefunden: Alternative Fakten. Seitdem ist es hoffähig geworden, zu lügen, auch wenn eine Aussage unschwer als Lüge zu durchschauen ist. Wissenschaftliche Fakten, fotografische Beweise – alles gefälscht, 2+2 ist nicht 4, sondern 5. Das eigene Weltbild ist richtig, alles andere ist Lüge. Ein Diskurs ist dann nicht möglich und wird sowieso abgelehnt. Dank KI können sogar Menschen in Wort und Bild Aussagen unterstellt werden, welche diese nie getätigt haben – aber die Fälschung sieht täuschend echt aus. 

… und einige vermutete Hintergründe dazu

Wie kommt es zu solchen Zuspitzungen? Ich habe dazu einige Vermutungen: 

  • Dass die Komplexität unseres Lebens steigt, ist nun hinlänglich bekannt. Dass der Mensch nur eine bestimmte Menge an Komplexität aushalten kann, auch. Wird es zu viel, sucht man nach Vereinfachungen, die den Umgang mit einer komplexen Situation erleichtern. Dafür nimmt man beispielsweise eine Ausschnittbetrachtung aus dem Gesamten vor, in der (vermeintliche) Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge scheinbar schnell erkennbar und somit auch schnell verstehbar sind. Beispiel: Das Heizungsgesetz. Teile werden aus dem Zusammenhang gerissen, falsch dargestellt, und damit wird dann unzutreffende Meinung erzeugt, die zur Wut führt. Wer diese Denkweise gut bedienen kann, hat gewonnen. Was dann dabei herauskommt, zeigt die Interviewäußerung eines Jungbauern im Fernsehen bei der großen Bauerndemonstration im Januar in Berlin: „Wir brauchen eine Militärregierung in Deutschland!“  
     
  • Die Fähigkeit, aber vor allem auch die Bereitschaft zur Selbstsorge hat in den Jahren bei vielen gelitten. Viele Menschen erwarten vom Staat eine Vollversorgung. Die durch John F. Kennedy berühmt gewordene Aussage: „Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann, frage lieber, was Du für Dein Land tun kannst!“ hat sich oft verkehrt. Werden dann Vergünstigungen reduziert oder gar entzogen, ist die Klage groß und die Akzeptanz für (manchmal unvermeidliche) Veränderungen gering. 
     
  • Dass das Leben für viele Menschen aller Altersgruppen und Bevölkerungsschichten in nahezu allen Lebensbereichen stark stressbelastet ist, ist bekannt. Negativer Stress ist dann weniger gefährlich, wenn er abgeführt oder reduziert werden kann. Das geht aber für viele Menschen nicht so einfach, nicht jeder kann bei Überdruck Holzhacken gehen. Stress reduziert auch die Fähigkeit zur Selbstregulation, eine Fähigkeit, die in entspannten Situationen deutlich besser zum Ausdruck kommt. Unter Anspannung reagiert man eher impulsiv und oft auch ein wenig unkontrolliert.  
     
  • Die Protagonisten der einzelnen Richtungen (z.B. Klaus Weselsky) stehen selbst unter dem Druck ihrer Basis (z.B. Lokführern), die vorher (von ihnen) aufgeheizt wurden und dann anschließend entsprechende Ergebnisse sehen wollen. Das macht Kompromisse oft schwer. 

Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht 

Und „Freitag ab eins macht jeder seins“. Ganz so einfach geht es nicht, denn diese Äußerungen blenden Wert und Funktion einer Gemeinschaft aus. Wenn jeder macht, was er will, ist keinem geholfen. Kein Mensch auf dieser Welt kann dauerhaft ohne die Gemeinschaft auskommen, selbst wenn die Intensität der Zugehörigkeit unterschiedlich sein mag. Die Überforderung vieler mit den täglichen Ereignissen gepaart mit einer gefühlten Machtlosigkeit macht viele wütend, führt auf der einen Seite zu heftigen Protesten auf der Straße und zur Vereinfachung komplexer Tatbestände wie auch zum Rückzug auf das Ich.  
 
Das, was derzeit in unserem Land geschieht, schafft mehr Gräben, als dass es Probleme dauerhaft löst und die Gemeinschaft stärkt – was wir dringend nötig hätten angesichts der lokalen, überregionalen und weltweiten Heraus-forderungen. Für deren Bearbeitung sind Wut und kurzfristiges Denken keine guten Ratgeber, denn zum Schluss zahlt jeder. 

Wie kann es weitergehen? In Politik, Wirtschaft und in den Unternehmen geht es darum, stets zu verdeutlichen, dass die Herausforderungen der Zukunft nur gemeinsam gelöst werden können. Nach dem Streik müssen alle wieder zusammenarbeiten, daran sollten die Akteure auf der Arbeitgeber- wie auf der Gewerkschaftsseite stets denken. Wo es (scheinbare) Gewinner gibt, gibt es auch tatsächliche Verlierer. Und die sind manchmal ganz schön nachtragend. 

Piep Piep Piep, wir haben uns alle lieb? 

Also Piep Piep Piep, wir haben uns alle lieb? Gewiss nicht. Es wird immer unterschiedliche Gegebenheiten und Standpunkte geben, und die Auseinandersetzung damit kann sogar sehr fruchtbar sein. Diese Auseinandersetzung verlangt aber nach Respekt und Akzeptanz der Sichtweisen und sollte getragen werden von der Überlegung für die Zeit danach.  
 
Das gilt natürlich auch für den persönlichen Diskurs ebenso wie für die Kommunikation im Unternehmen. Und: Vertrauen ist die Basis von allem. Es ist nicht alles vorhersehbar oder bestimmbar, auf manches muss man sich einfach verlassen können. Bei der Heftigkeit der Auseinandersetzungen und dem Umgang mit Informationen ist viel Vertrauen verloren gegangen.  
 
Das muss schnellstens wieder zurückgewonnen werden, wenn wir die Zukunft positiv gestalten wollen. Und die Blickrichtung muss über den eigenen Tellerrand hinaus sich wieder mehr auf das Gemeinwesen richten: Vom Ich zum Wir. Sonst werden wir es nicht schaffen. Wenn Sie darüber sprechen wollen und einen Gedankenaustausch, wie das in Ihrem Unternehmen gefördert werden kann, wünschen – Sie wissen ja, wo Sie uns finden!