Mensch sein, Mensch werden: Was heißt das?

Mensch sein, Mensch werden: Was heißt das?

Gute Frage, nicht wahr? Besonders in diesen Zeiten.

Schauen wir doch mal nach, was da so angeboten wird. Bei den 10 Geboten heißt es: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!“ Dann bin ich Mensch? Mutter Theresa hat sich ihr ganzes Leben lang der Hilfe kranker Menschen verschrieben („Liebe Deinen Nächsten…“). Ist das ein treffendes Beispiel für Mensch sein? Und wenn ich dem aus jedwelchen Gründen nicht nachkommen kann? Bin ich dann kein Mensch?

Heißt Mensch sein nicht auch, für sich selbst gut zu sorgen („…wie dich selbst“)? Ist Mensch sein und menschlich sein deckungsgleich oder gibt es da Unterschiede? Nähern wir uns dieser vielschichtigen Frage hier unter dem Aspekt der Verantwortung.

Mensch ist man schon qua Existenz und hat zum Menschwerden breite Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten, die auch ein unmenschlich sein einschließen. Schauen wir bei Viktor Frankl und der Logotherapie/ Existenzanalyse nach, finden wir folgenden Hinweis: Mensch sein heißt, die Anfragen des Lebens in Freiheit und Verantwortung anzunehmen, Stellung zu beziehen und zu beantworten. Die Anfragen, die das Leben an uns stellt, kann man auch mit dem Begriff „Herausforderungen“ beschreiben.

Jeden Tag werden wir mit solchen Herausforderungen in unserem privaten wie beruflichen Leben konfrontiert: Da gilt es, unvorhergesehenen Problemen zu begegnen, mit Krankheit zurecht zu kommen, schwierige berufliche Entscheidungen zu treffen usw. Wir können und wollen oft auch nicht davor weglaufen, egal wie stark dieser Impuls in der Situation sein mag. Wir wissen: Es gilt, Verantwortung zu übernehmen und Antworten zu geben.

Das können wir auch, denn der Mensch ist prinzipiell frei, sagt Viktor Frankl: „Wir sind vielleicht nicht frei von, aber immer frei zu!“ Gemeint ist, dass der Mensch in Kontexte eingebunden ist, die seine Freiheit beeinflussen und manchmal einschränken. Er ist nicht frei von. Frei zu bedeutet, dass er sich auch unter Einschränkungen immer so oder so zu einer Sache stellen kann und in diesem Sinne frei in seiner Entscheidung ist.

Freiheit UND Verantwortung

Mit Freiheit ist immer auch Verantwortlichkeit verbunden. Freiheit ohne Verantwortung ist Beliebigkeit. Verantwortung ohne Freiheit ist Zwang. Der Mensch kann sich frei für die eine oder andere Möglichkeit oder eine bestimmte Haltung entscheiden, aber jede Entscheidung beinhaltet Konsequenzen, die es dann zu tragen gilt, die unangenehmen genauso wie die angenehmen. Und da hapert es oft, diese Verpflichtung übersehen wir gerne, vor allem bei unangenehmen Konsequenzen. In Seminarveranstaltungen zu den Themen Burnout und Life Balance habe ich oft gefragt (und tue es immer noch), wer denn für das Leben eines jeden Einzelnen der anwesenden Personen verantwortlich sei.

Kurz nach so tiefsinnigen Antworten wie „meine Mutter“ oder „mein Chef“ kam bei den meisten recht schnell die Aussage: „Ich bin für mein Leben verantwortlich.“ Tatsächlich? Wenn dem so ist, weshalb suchen viele Menschen dann, wenn es mal nicht so gut läuft, Ursache und ggf. Schuld zuerst bei anderen? Die Eltern haben uns das Leben geschenkt und besonders in der Zeit des Heranwachsens viel Verantwortung für uns übernommen, aber nun sind wir erwachsen. Wenn ich im Coaching höre, „Meine Eltern sind schuld, dass ich so bin, dass es mir heute so geht!“, weise ich gerne darauf hin, dass die betreffende Person genug Lebensjahre zur Verfügung hatte, diese elterliche Prägung zu bearbeiten.

Kindern die Möglichkeiten, Mensch zu werden und zu sein, verweigern

Die Aufgabe von Eltern sehe ich u.a. darin, Kinder in das Leben zu begleiten und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich in und zu ihrem ganz eigenen Menschsein zu entwickeln und zu lernen, Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört auch, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich anzueignen, was sie befähigt, ihr Leben gut zu führen und mit den Fährnissen umgehen zu können. Aber wie sieht es manchmal in der Praxis aus? Beispiel: Vor kurzem erfuhr ich, dass es Bestrebungen gäbe, die Bundesjugendspiele in den Grundschulen abzuschaffen. Man möchte so Kinder vor möglichen Misserfolgserlebnissen (wenn sie den sportlichen Anforderungen nicht genügten) bewahren. Wie bitte?

Sicher haben nicht alle von Ihnen ausschließlich positive Erinnerungen an Bundesjugendspiele (und vielleicht auch den Sportunterricht), aber wir haben die dort vielleicht erlebten Misserfolge verkraftet, und vielleicht war der eine oder andere Misserfolg auch Ansporn, etwas zu ändern. Wir konnten an uns selbst erleben, dass nicht immer alles gelingt, dass es für uns auch ein Leben ohne Sieger- oder Ehrenurkunde gibt, dass ich die Fähigkeit habe, auch weniger schöne Situationen zu überwinden u.v.m. Und genau diese für das Mensch sein so wichtigen Erfahrungen sollen den Kindern u.a. in diesem Beispiel verweigert werden?

Lesen, schreiben, rechnen – wozu im Zeitalter von ChatGPT?

In diesem Jahr wurde in Deutschland eine Studie vorgestellt, der zufolge über 25% der Kinder am Ende des 4. Schuljahres unzureichend oder kaum lesen können. Lesen – die Kulturtechnik schlechthin, die sowohl unser Werden wie auch unser Sein, unser Mensch sein, unser Miteinander enorm beeinflusst! Vor Jahren gab es in Baden-Württemberg in den Grundschulen Bestrebungen dahingehend, das Erlernen einer Schreibschrift abzuschaffen. Druckbuchstaben reichen, so war die Meinung, die Kinder sitzen eh vor dem Handy oder dem Computer, da braucht es keine Schreibschrift. Was aus diesen Plänen geworden ist, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass so den Kindern eine wichtige Entwicklungsmöglichkeit verweigert wird bzw. wurde.

Die Gehirnforschung hat ganz klar belegt, dass beim Schreiben beide Hirnhälften in Verbindung stehen und hier wesentliche Verknüpfungen hergestellt werden, die Kreativität gefördert wird u.v.m. Vielleicht haben Sie sich auch schon einmal am Bild eines schön geschriebenen Textes erfreut, so gut muss das aber nicht jeder können. Und fürs Rechnen gibt es ja Taschenrechner, die ein Training des Gehirns bzw. der Rechenleistung überflüssig machen. Fazit: Um den Kindern scheinbar schlechte Erfahrungen in der Kindheit zu ersparen, verweigert man ihnen Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten, die es ihnen ermöglichen, als Erwachsene ihr Leben gut zu gestalten. Fördern und fordern, habe ich mal gelernt, ist eine wichtige Regel, und Verantwortung übernehmen will auch gelernt sein

Was heißt Mensch sein (2)?

Mensch sein heißt, sein Leben selbst zu gestalten, für sich selbst sorgen zu können, sich selbst steuern zu können und nicht (nur) Affekten unterworfen zu sein. Mensch sein heißt, Beziehungen aufnehmen und gestalten zu können. Mensch sein heißt, auch mit schwierigen Situationen gut umgehen zu können. Mensch sein heißt, einen Lebensweg für sich zu finden, der möglichst erfüllend ist sowie Beziehungen auf Augenhöhe eingehen zu können.

Die einen Hürden werden weggeräumt, noch größere errichtet

Es ist nicht nur die Schule, welche die Fähigkeit, Verantwortung auch für das eigene Leben zu übernehmen, nicht ausreichend unterstützt. Unsere Sozialsysteme helfen denen, die meist unverschuldet und aus vielen Gründen in Not geraten sind, UND DAS IST GUT SO! Vor allem dann, wenn die Hilfe so ausgerichtet ist, die Betroffenen dabei zu unterstützen, in absehbarer Zeit wieder ganz oder zumindest teilweise für sich selbst sorgen können, und jenen, die dauerhaft auf Hilfe angewiesen sind, nicht die Würde wegnimmt. Deutschland ist da, meine ich durchaus mit Stolz, ein Vorbild. Oft geht der soziale Gedanke aber zu weit und wird unsozial, wenn er die Handlungsfähigkeit und den Handlungswillen der Betroffenen außer Kraft setzt.

Da werden dann Hilfen und Zuschüsse gewährt, die in einem solchen Ausmaß in einem bestimmten Kontext nicht notwendig sind und die Betroffenen sich selbst als hilfsbedürftig und nicht als handlungsfähig erleben lassen. Verstärkt sich das, kommt es nach und nach zu einer sogenannten erlernten Hilflosigkeit. „Panem et Circenses“ hieß das bei den alten Römern, und wie sich das entwickelt hat, kann man in den Geschichtsbüchern nachlesen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass bei uns Probleme gerade im sozialen Bereich nicht aktiv beseitigt, sondern aktiv mit Geld zugeschüttet (und dann immer größer) werden. Künftige Generationen dürfen bezahlen.

Jammerrepublik Deutschland?

Noch vor kurzem wurde darüber diskutiert, ob der während Corona herabgesetzte Mehrwertsteuersatz in der Gastronomie wieder auf die ursprüngliche Höhe von 19% zum Jahresende 2023 (so wurde es damals beschlossen) heraufgesetzt wird. Der Aufschrei war enorm, vor allem von den Verbänden. Nicht weniger als das Ende der Gastronomie, die sich gerade ein wenig erholt habe, wurde von diesen prognostiziert. Ich weiß nicht, wie es Ihnen erging, aber ich habe seinerzeit während Corona aufgrund gesenkter Mehrwertsteuer keine Preisreduktion in der Gastronomie feststellen können. Festgestellt habe ich aber nach Corona, dass die Preise in den meisten Restaurants trotz noch reduzierter Mehrwertsteuer signifikant gestiegen sind.

Es ist in unserer Wirtschaft guter Brauch geworden, dass immer dann, wenn gesetzliche Vorhaben oder andere Umstände, welche die Gewinne schmälern oder gar Kosten erhöhen könnten, im Gespräch sind, sofort vor allem von Interessenverbänden laut das Ende der Branche oder der gesamten Wirtschaft beschworen und nach Unterstützung gerufen wird. (Ähnliches gelingt oft auch den Sozialverbänden, manchmal aber nicht so laut).

Der Ruf nach Subventionen ist dann nicht mehr zu überhören. Im Ausland ist sowieso alles besser, wird behauptet und mit Abwanderung des Unternehmens oder gar ganzer Branchen gedroht. Ohne Zweifel gibt es in der ganzen Welt wettbewerbsverzerrende Umstände wie z.B. offene (China) oder verdeckte (USA) staatliche Subventionierungen. So ist das nun mal, nicht nur in einem kapitalistischen System, und das ist auch nicht richtig so. Die viel beschworene Freiheit in der sog. Freien Wirtschaft ist nun mal relativ. Und: Unternehmer heißen Unternehmer, weil sie etwas unternehmen, oder nicht? Weil sie Eigenverantwortung übernehmen und nicht, weil sie jammern, meine ich, und wundere mich dann, dass sie sich nicht schämen, sich als bedürftig darzustellen und Unterstützung aus Steuergeldern einfordern, wo doch das Finanzamt zu den Hauptfeinden des „freien Unternehmertums“ gehört.

Ich gebe aber zu, dass der wirtschaftliche Verstand in der Politik sehr unterschiedlich ausgeprägt ist und deshalb die Auswirkungen mancher von ihr gefassten Beschlüsse gravierende Folgen für Unternehmen haben, welche diese alleine nicht mehr tragen können.

Was heißt Mensch sein? (3)

Mensch sein heißt, sein Leben in Freiheit und Verantwortung zu führen und zu gestalten, so formulierte ich es am Anfang. Dabei begrenzen uns die Systeme, in denen wir leben. Gleichzeitig eröffnen diese Systeme uns auch (Entwicklungs-)Möglichkeiten, die dem einzelnen sonst nicht zugänglich wären.

Es gilt deshalb, die Freiheiten und Möglichkeiten innerhalb der Systeme zu erkennen und zu nutzen bzw. sich solche zu erschließen, was allerdings meist eigene Aktivitäten erfordert: Mensch sein heißt immer auch Mensch werden. Menschen, die ganz oder teilweise dazu vorübergehend oder dauerhaft nicht in der Lage sind, verdienen die Unterstützung und den Schutz der Gemeinschaft. Neoliberalismus und reiner Kapitalismus vertragen sich damit nicht.

Derzeit habe ich aber den Eindruck, dass die vielen sozialen Leistungen, ehedem gut meint, bei einigen zu einer Anspruchshaltung gegenüber dem Staat führen, die dieser nicht mehr erfüllen kann. Die Eigeninitiative besteht dann nur noch darin, den richtigen Antrag zu stellen, wobei das auch schon ganz schön schwierig sein kann.

Gleiches gilt für Subventionen in der Wirtschaft, wo es heißt: Gibt es da nicht auch was vom Staat? Das Erschließen öffentlicher Gelder für was auch immer wurde inzwischen zu einem Beruf für Subventionsspezialisten. Damit möchte ich nichts gegen manchmal sinnvolle oder gar notwendige Subventionen im Einzelfall sagen. Ich bin nur gegen den Automatismus und werbe dafür, die Subvention in Relation zum Nutzen für die Gesellschaft zu setzen und daran zu denken: Der Steuerzahler bezahlt. Unsere Systeme werden überfordert und stoßen schon lange an ihre Grenzen.

Was sind die Folgen? (Auswahl)

Kindern und Jugendlichen werden, indem man mögliche sinnvolle Lernprozesse als Hindernisse definiert und aus dem Weg räumt, Entwicklungsmöglichkeiten verwehrt, die ihnen zu Kompetenzen verhelfen, welche sie bei der selbstgesteuerten Gestaltung eines erfüllenden Lebens unterstützen. Argumentiert wird aber u.a. damit, Kinder vor schlechten Erfahrungen bewahren zu wollen.
Nicht nur, aber auch dadurch entstand und entsteht Orientierungslosigkeit bei vielen Jugendlichen, verbunden mit weiteren psychischen Problemen, für deren Bearbeitung durch Beratung und Unterstützung die Infrastruktur in diesem Lande fehlt. Was das wohl für die Zukunft bedeutet?

Eigenverantwortlich handelnde Staatsbürger mit dem Vermögen zu selbstständigem Denken in Zusammenhänge werden so jedenfalls nicht herangebildet.

Der Staat wird erpressbar, lässt sich erpressen: Wenn es nicht so geht, wie manche Unternehmen und Verbände es wünschen, wird sofort mit dem Wegfall, dem Abzug von Arbeitsplätzen gedroht.

Manche (viele?) Menschen werden durch eigentlich wohlgemeinte Sozialleistungen im Ergebnis in die erlernte Hilflosigkeit und Abhängigkeit geführt („Hartz in der 3. Generation“).

Was tun?

Eine Aufzählung dessen, was dringend erforderlich ist, würde den Rahmen dieses Unternehmerbriefes sprengen. Zwei bzw. drei vordringliche Handlungsfelder sehe ich: Endlich die Schul- und Bildungspolitik auf Platz 1 setzen (Frau Merkel hat den schönen Begriff der „Bildungsrepublik Deutschland“ geprägt, das war es dann aber auch schon, nichts geschah) und entsprechend finanziell ausstatten.

Die Sozialsysteme brauchen grundlegende Reformen. Die Subventionskultur ist zu überprüfen, die Eigenverantwortung zu stärken. Der Weg aus der augenblicklichen Situation wird nur gelingen, wenn wir sich selbst bewusste Menschen mit einem Blick für soziale Verantwortung und ein schöpferisches Miteinander haben.

Mensch sein heißt, sein Leben in die Hand zu nehmen, Verantwortung zu übernehmen, es zu gestalten und nicht über ein notwendiges Maß hinaus von anderen abhängig zu werden. Kann man Mensch sein in Ihrem Unternehmen? Über dieses Thema können wir gerne mit Ihnen sprechen. Sie wissen ja, wo Sie uns finden.