Wer wagt, verliert?

Wer wagt, verliert?

„Wer wagt, gewinnt“, so sagt der Volksmund. Aber stimmt das auch?

Zweifel kommen mir, wenn ich in diesen Tagen die Plakate der Parteien zu der in Kürze stattfindenden Bundestagswahl entlang den Straßen und auf den Plätzen sehe. Gilt auch da „Wer wagt, gewinnt?“. Die Parteien scheinen es selbst nicht zu glauben. Zu schlechte Erfahrungen haben sie damit gemacht, dass Mut und Risikobereitschaft nicht belohnt werden. Die Rente mit 67, die Abschaffung der Wehrpflicht, die Ankündigung von Steuererhöhungen … manch einem Verantwortlichen haben unpopuläre, aber dennoch notwendige Entscheidungen den Kopf, die Karriere oder gar den Wahlsieg gekostet. Herausgekommen ist nun eine „Plakatsoße“ mit kaum zu erkennenden Konturen und Unterschieden.

Aber schauen wir nicht nur auf die anderen, schauen wir auch auf uns selbst in den Unternehmen und Organisationen: Wie sehr sind wir manchmal (vielleicht aus Angst?) unscharf und harmonieorientiert, wo das Herausarbeiten von Unterschieden sinnvoller wäre? Wie risikobereit ist jeder von uns, wie sehr trauen wir uns, gegensätzliche Meinungen zu vertreten, von deren Richtigkeit und Sinnhaftigkeit wir überzeugt sind? Wie gehen wir in Organisationen mit Menschen um, die nicht im Mainstream mitschwimmen, sondern andere (und durchaus bedenkenswerte) Ansichten vertreten und dafür auch etwas wagen? Mit welchen Konsequenzen muss der einzelne in seiner Organisation rechnen, wenn er etwas wagt, und ist die Bereitschaft vorhanden, diese Konsequenzen zu tragen?

Das Leben in vielen Organisationen läuft mehr oder minder gut, Struktur und viele Routinen unterstützen den geregelten Ablauf und helfen, auch temporäre Herausforderungen zu bewältigen. Die meisten Menschen „tun ihre Pflicht“ und sind bestrebt, selbst nicht und schon gar nicht mit systemfremden Ideen aufzufallen. Der „Sitzfaktor“ (die Dauer der Zugehörigkeit entscheidet über die Beförderung) spielt nicht nur im öffentlichen Dienst eine Rolle, sondern durchaus auch in Unternehmen. Wer sich zuerst bewegt, hat schon verloren. Zahlreiche Karriereratgeber beschreiben bis ins Detail, was man tun oder besser lassen sollte, um (in den Kategorien der Ratgeber) erfolgreich Karriere zu machen. Querdenken gehört nicht dazu, Kinder und Familie oft auch nicht. Sich positionieren, abgrenzen, Erfahrungen machen, sich selbst treu bleiben statt sich zu verbiegen und so die eigene Lebensqualität (also nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die Zufriedenheitskomponente) zu steigern oder zumindest zu bewahren, damit auch Erschöpfung und Burnout vorzubeugen, das trifft man nicht allzu oft an.

Wie mit Risiken richtig umgehen?

Angesichts der weltwirtschaftlichen Lage und der Herausforderungen der Zukunft, welche nicht nur uns isoliert betreffen, sondern das ganze Welt(wirtschafts)system, wären wir in unserem Land gut beraten, uns verstärkt auch der Entwicklung und Stärkung folgender Kompetenzen zuzuwenden, und zwar sowohl bei der eigenen Person als auch in unseren Organisationen:

  • (mehr) Entwicklung von Risikobewusstsein und Risikobereitschaft,
  •  (mehr) Mut, auch etwas zu wagen.

ad 1: Das Leben ist lebensgefährlich, sagt der Volksmund, und hat Recht damit. Die Versicherungswirtschaft hat das vor langer Zeit erkannt und bietet gegen entsprechende Prämien Schutz vor nahezu allen Fährnissen des Lebens an. Nur gegen den Tod kann man sich meines Wissens nach nicht versichern, aber immerhin einfrieren lassen, um dann zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Medizin endlich den Weg zum ewigen Leben gefunden hat, wieder aufgetaut zu werden. In der Konsequenz hat dieser Hang zur Absicherung gegen alles und jedes bei vielen Menschen in unserem Land zu einer sogenannten „Vollkaskomentalität“ geführt, mit der Erwartung, dass alles abgesichert ist. Man will möglichst am Anfang schon das Ende sicher erkennen. Dies ist aber oft nicht möglich, ohne zunächst den Weg selbst zu gehen. So besteht oft eine gewisse Scheu, sich auf den Weg zu begeben und mal zu sehen, was so passiert. Achtung: Hier soll nicht der unüberlegten Tollkühnheit das Wort geredet, sondern dazu aufgefordert werden, nach Prüfung der Risiken und ohne 100%ige Sicherheit auch etwas zu wagen.

Zum Wesenskern des Risikos gehört es, etwas zu denken oder zu tun, ohne das Ergebnis oder den Ausgang genau zu kennen. Täglich praktizieren wir Risikobereitschaft: Wir wissen nicht, ob wir sicher und gesund abends nach Hause kommen, wenn wir morgens zur Arbeit gehen, und gehen doch jeden Tag. Wir wissen nicht sicher, ob wir das andere Ende der Straße erreichen, wenn wir sie überqueren, und setzten doch einen Fuß vor den anderen. Wir wissen nicht, ob das Gesparte auch in einigen Jahren noch werthaltig ist, und dennoch sparen wir. Immer wieder erfüllte Erwartungen reduzieren nämlich das subjektiv wahrgenommene Risiko und führen zu Wiederholungen. Darin schlummert auch eine Gefahr: Wenn ich z.B. viele Berge erfolgreich bestiegen habe, muss ich mich ganz besonders vor Nachlässigkeiten hüten, denn es besteht die Gefahr, dass das wahrgenommene Risiko durch eine gewisse Routine reduziert wird und zu Nachlässigkeiten verführt. Risikobereitschaft setzt voraus, dass man bereit und in der Lage ist, das eigene Sicherheitsbedürfnis zu kennen, zu verstehen und zu relativieren, d.h. es nicht übermächtig werden zu lassen, sondern richtig einzuordnen, weil es sonst lähmt und neue Aktionen verhindert.

Soweit die personenbezogene Seite. Aber wie sieht es in den Organisationen hinsichtlich Risikobewusstsein und Risikobereitschaft aus? Außerhalb des institutionalisierten risk management: Werden Risikobewusstsein und Risikobereitschaft bei Mitarbeitern und Führungskräften trainiert? Wird dort, vor allem in den unteren Ebenen, Risikobewusstsein und Risikobereitschaft durch entsprechende Führung und prozessuale Voraussetzungen gefördert? Oder gilt mehr der Satz: Nur wer nichts macht, macht nichts verkehrt. Wie wird Risikoabwägung betrieben: Mehr unter dem Aspekt des Möglichen oder des Unmöglichen, der Chancen oder der Risiken? Wie sieht es mit der Fehlerkultur aus? Werden (erstmalige) Fehler als Lernchancen gesehen, oder tragen sie gar zum persönlichen Untergang in der Organisation bei? Wie sieht der Lernprozess nach Fehlern aus? Vielleicht kennen Sie die kleine Anekdote, wonach ein Mitarbeiter in einem Unternehmen in den USA einen millionenschweren Fehler gemacht hatte und in der Konsequenz von sich aus kündigte. Der Chef lehnte die Kündigung mit den Worten ab: „Ihre Ausbildung hat soeben mehrere Millionen Dollar gekostet, Sie bleiben!“

Wer wagt, gewinnt!

ad 2: Risikobereitschaft ist der erste Schritt; die Bereitschaft, etwas zu wagen, der zweite. Wie oft haben auch Sie erfahren, dass wichtige und auch schon mal riskante Dinge in Gremien beschlossen wurden – und es niemand gab, der sich an die Umsetzung wagte? Niemand, der sich verantwortlich fühlte und sich – auch mit dem Risiko des Scheiterns – der Sache angenommen hat? Das gilt natürlich auch für das eigene Leben: Wie viele Absichten und Wünsche werden (obwohl möglich) nicht realisiert, weil der Mut fehlt, es zu wagen? Stattdessen: Ich würde ja gerne, aber/wenn/jedoch … Wie oft leben wir nach dem Spruch: „Reisen ist besser als Ankommen“ – Ankommen würde nämlich die Umsetzung und die Konfrontation mit der Realität bedeuten, da bleiben wir doch lieber im Bereich von Wunsch und Phantasie? „Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt“, sagt das chinesische Sprichwort, und um den zu tun, muss man manchmal etwas wagen.

Zum Wagnis gehört der mögliche Erfolg ebenso wie das mögliche Scheitern. Belohnt wird man immer: Durch Erfolge oder Lernprozesse oder beides. Und auch mit größerer Lebenszufriedenheit: Wie viele Menschen denken immer mal wieder und nicht nur im Alter: „Hätte ich doch bloß das oder jenes getan, aber ich habe mich nicht getraut!“ „Wie interessanter wäre mein Leben verlaufen, wenn…“. Der Mangel an Risikobereitschaft und Wagemut haben dem Sicherheitsdenken den Vortritt gelassen und so Erfahrung verhindert. Wieviel Unzufriedenheit mit dem Ist, wieviel Krankheit, wieviel Einbuße an Lebensqualität und Lebenszufriedenheit sind diesem Umstand zuzuschreiben! Ich spreche hier auch aus jahrelanger Coachingerfahrung, wo ich immer wieder auf Menschen treffe, die ihren verpassten Chancen nachtrauern und deshalb mit ihrem jetzigen Leben hadern.

Auch an dieser Stelle ein Blick in die Organisationen: Wie wird da mit Wagemut (nicht unüberlegter Tollkühnheit) der Mitarbeiter umgegangen? Ist Platz für Wagemut? Werden eher (natürlich je nach Anlass) Wagemut oder eher systemkonformes Verhalten honoriert? Gehören Akzeptanz und Raum für Risikobereitschaft und Wagemut zur gelebten Unternehmenskultur, hat die Organisation durchaus Vorteile und Nutzen: Sie erschließen sich weiteres Wissen und engagiertes Können sowie Motivation der Mitarbeiter, können damit vielschichtiger den Herausforderungen des jeweiligen Marktes begegnen und leisten einen relevanten Beitrag zur Mitarbeiterzufriedenheit. Sie bekommen zusätzlichen Nutzen, für den sie bereits mit der monatlichen Entlohnung bezahlt haben und der deshalb keine Mehrkosten verursacht. Außerdem verstärkt sich die Mitarbeiterbindung. Auch hier gibt es mindestens zwei beteiligte Parteien: Auf der Mitarbeiterseite Risikobereitschaft und Wagemut, auf der Unternehmensseite Offenheit gegenüber diesen Eigenschaften und die Bereitschaft, sich konstruktiv damit auseinanderzusetzen.

No risk, no future

Zum Abschluss noch ein Bespiel aus der Praxis für oft fehlende Risikobereitschaft und Wagemut, das auch mittelbar mit Unternehmen (von denen aktuell einige über den Mangel an Auszubildenden klagen) zu tun hat: In Deutschland haben wir eine Geburtenquote von 1,36 (100 Frauen bekommen 136 Kinder), in der EU 1,57. Die BAT Stiftung für Zukunftsfragen hat soeben mit einer Befragung bei über 2.000 Personen über 14 Jahre ermittelt, woran diese niedrige Geburtenrate trotz aller Fördermaßnahmen der Bundesregierung liegt, und pro 100 Befragte folgende Antworten erhalten:

·        Kinder kosten (zu viel) Geld                                        67/100

·        Wollen lieber frei und unabhängig sein                       60/100

·        Karriere wichtiger als Familiengründung                     57/100

·        Karriere nur schlecht mit Familie vereinbar 54/100

·        Staatliche Voraussetzungen (z.B. Kita) fehlen              45/100

·        unsichere Zukunft für die eigenen Kinder                   39/100

und 4 weitere Angaben (Forschung aktuell, 248, 34. Jg., 01.08.2013)

Diese Auflistung berücksichtigt naturgemäß nicht die wirklichen individuellen Gründe der Befragten, sondern vor allem Einstellungen. Für mich werden hinter diesen Angaben auch ein Mangel an Risikobereitschaft und Wagemut deutlich – hätten unsere Eltern so gedacht, wären die meisten von uns nicht hier. Und für unsere Eltern war früher auch nicht alles besser.

Wenn Sie sich über das Thema Risikobereitschaft und Wagemut in Ihrem Unternehmen mit uns austauschen möchten – Sie wissen ja, wo Sie uns finden. Das Team von synthesis und ich wünschen Ihnen ein erfolgreiches letztes Jahresdrittel,

herzliche Grüße.

Ihr

Thomas Zimmermann

Noch ein Literaturtipp: Ingmar S. Brunken: Die 6 Meister der Strategie. Das Buch stellt 6 Strategen (Clausewitz, Musashi, Seneca, Hagakure, Machiavelli, Sun-Tsu) und ihre Strategien sowie deren Anwendbarkeit auf Unternehmen vor. Gut zu lesen und sehr praxisorientiert.

 

 

 

 

 

 

Wir brauchen nicht so fortzuleben,

wie wir gestern gelebt haben.

Macht euch nur von dieser Anschauung los

und tausend Möglichkeiten

laden uns zu neuem Leben ein.

 

Christian Morgenstern