In Davos trafen sich Ende Mai die Größen aus Wirtschaft und Politik, vor allem aus der westlichen Welt, um sich angesichts der Weltlage Gedanken darüber zu machen, wie sich unser (wirtschaftliches) Weiterleben gestalten lässt. In diesem Kontext, referierte die Süddeutsche Zeitung am 23.5.2022 zur Frage, ob das Wirtschaftssystem, wie wir es kennen, noch trägt, die Gedanken und Erkenntnisse von Sven Smit, dem Chef des Think Tanks von McKinsey und somit sicher keinem dummen Menschen.
Seine Antwort mündet in der Aussage: „Wir haben uns aus der alten Welt verabschiedet, sind aber noch längst nicht fit für die neue Welt“. Zur Zukunft des Wirtschaftens hat er 380 Konzernlenker aus aller Welt befragt, und auch in Davos dazu referiert. Conclusio: So wie bisher geht es nicht weiter. Aha! Ist diese Erkenntnis wirklich neu (Antwort: Nein), und was bedeutet das?
Die Lage ist bekannt: Der Ukraine-Krieg bringt nicht nur entsetzlich viel Leid über die Menschen in diesem Land (genauso für viele Menschen in Russland), sondern bindet Kapital, vernichtet Rohstoffe, belastet die Märkte und, am Allerwichtigsten: Hat Vertrauen in Politik und Wirtschaftsstrukturen in bisher ungekanntem Maße vernichtet. China bringt mit der Null-Covid-Strategie und dem Abschotten der Häfen weitere Turbulenzen in den Weltmarkt, die Inflation in den USA ist hoch und die Industrie nicht nur in Europa leidet unter den gestörten Lieferketten.
Niemand in Deutschland weiß, wie die Wohltaten der Regierungen aus der Corona – Zeit und der aktuellen Lage in Deutschland für Bürger und Unternehmen einstmals bezahlt werden sollen. Genannt werden steigende Steuereinnahmen durch künftiges Wachstum, aus der Inflation (sic!) u.ä. Ich glaube, dass da Hoffnung eine große Rolle spielt. Die Lage, so würde Konrad Adenauer heute sagen, war noch nie so ernst.
Krisen gab es schon immer
Wirtschaftskrisen gab es auch schon in der Vergangenheit: „Die Menschen sahen die Krise und beschlossen, nicht mehr zu kaufen. Irgendwann änderten sie ihr Verhalten und kauften wieder oder die Restriktionen fielen weg.“ Auch mit allerlei staatlichen Maßnahmen und Unterstützungsleistungen nahm der Markt wieder Fahrt auf.
So wurde auch eine Scheinwelt aufgebaut: Es ging nachher fast immer genauso weiter wie vorher. Jetzt und heute wird man sich aber nach und nach der realen Zusammenhänge, die zu Krisen führen, bewusst: Die Natur lässt sich nicht (und vor allem nicht ungestraft) unbegrenzt ausbeuten, Rohstoffe aller Art sind limitiert, kein Staat auf dieser Welt, keine Gemeinschaft kann alleine und ohne die anderen leben: Alles hängt mit allem zusammen, es ist eine Welt, und diese Verbindungen gehen weit über die Lieferketten, über die soviel gesprochen wird, hinaus.
Es wird klar und deutlich: Mit den Rezepten der Vergangenheit lassen sich die Heraus-forderungen der Zukunft nicht mehr bewältigen.
Die Welt fragt an
In Logotherapie/Existenzanalyse lautet eine der zentralen Aussagen: Es geht nicht darum, was Du von der Welt erwartest, sondern was die Welt von Dir erwartet. „Die Welt fragt an, und der Mensch hat zu antworten“ (Viktor. Frankl). In diesem Kontext heißt das: Die Herausforderung, vor die uns die jetzige Situation stellt, ist eindeutig: So wie bisher geht es nicht weiter, wir sind aufgefordert, neue Wege zu finden und zu gehen, wenn wir unsere Welt lebenswert für alle und künftige Generationen erhalten wollen.
Dies gilt nicht nur für Natur- und Umweltschutz, sondern ganz besonders für unsere wirtschaftlichen und politischen Systeme. „Trägt das Wirtschaftssystem, wie wir es kennen, noch?“, fragt Sven Smit. Die Antwort ist m.E. eindeutig: Nein! Mit den Paradigmen der Vergangenheit wie ungezügelter Kapitalismus, unregulierte Marktwirtschaft, Globalisierung, internationale Vernetzung, Suche (und Sucht) nach dem günstigsten Preis weltweit usw. haben wir viel Gutes für zumindest einen Teil der Menschheit bewirkt, uns aber auch in die Lage gebracht, in der wir uns jetzt befinden.
Keinen Fortbestand kann m.E. haben:
- Das Diktat der Zahlen (höher, weiter, schneller, billiger), mit dem viele Unternehmen geführt und dem alle anderen Aspekte untergeordnet werden. Zu beantwortende Frage: Welche Faktoren wirken künftig für einen dauerhaften Unternehmenserfolg?
- Eine Globalisierung, die in erster Linie die Gewinnmaximierung im Focus hat und von der wenige viel und viele wenig profitieren. Zu beantwortende Frage: Wie sieht eine Globalisierung aus, die allen Nutzen stiftet?
- Die grenzenlose Ausbeutung der Natur und die Gewinnung von Rohstoffen, denn eine begrenzte Welt verfügt nun mal nicht über unbegrenzte Ressourcen. Zu beantwortende Frage: Wie kann die Haltbarkeit der Produkte erhöht und z.B. das reparieren von Dingen in vielen Fällen wieder günstiger werden als wegwerfen und so der Rohstoffverbrauch gesenkt werden?
- Die Privatisierung von Gewinnen und die Sozialisierung von Verlusten, vor allem durch internationale Großkonzerne. Zu beantwortende (uralte) Frage: Wie kann mehr Steuergerechtigkeit erzielt werden?
- Das Weltverständnis der „alten weißen (leider nicht weisen) Männer“, die sich so gerne in den Geschichtsbüchern als Heroen wiederfinden möchten und die mit einem Macht- und Geschichtsverständnis aus den letzten Jahrhunderten ausgestattet sind. Zu beantwortende Frage: Wie können Bildung und Kultur so gestaltet werden, dass ein anderes Verständnis von Macht entsteht?
- Die stets größer werdende Kluft zwischen arm und reich. Zu beantwortende Frage: Wie können wir bewirken, dass alle Menschen menschenwürdig leben können und auch so Fluchtbewegungen reduziert werden?
- u.v.m.
Wenn nicht so, wie dann?
Wenn es so wie jetzt nicht weitergehen kann, wie dann? Wie kann bzw. sollte eine Welt aussehen, die allen Menschen ein lebenswertes Leben ermöglicht? Die auch für unsere Kinder und Kindeskinder noch gesund und attraktiv ist und ihnen ein Überleben ermöglicht?
Ich glaube, dass wir ein neues Verständnis von Welt und Wirtschaft brauchen und eine andere Art der Globalisierung, denn alleine kann kein Land nachhaltige und zukunftssichernde Veränderungen schaffen.
Ein paar Gedankensplitter hierzu:
- Es ist höchste Zeit, vermehrt einen systemischen Blick zu entwickeln und Zusammenhänge zu erkennen – in der Wirtschaft ebenso wie in der Politik. Umweltverschmutzung z.B. macht nicht an Grenzen halt, die Gewinnung von Erdöl, Erdgas, Metallen usw. hat Konsequenzen für das ganze System Welt.
Wir können uns einfach keine bewaffneten Auseinandersetzungen mehr leisten, auch weil die Bearbeitung der Probleme der Welt unser gesamtes Engagement verlangt. Geografische Grenzen dürfen nicht die notwendige Kooperation blockieren. Machtstreben im herkömmlichen Sinne hat ausgedient und ist absolut kontraproduktiv. - In den Unternehmen benötigen wir eine Überwindung des noch allzu oft anzutreffenden Taylorismus hin zu neuen Arbeitsformen. Dazu sind wir durchaus in der Lage, wie man unter dem Stichwort home office lernen konnte. In diesem Zusammenhang ist auch das Führungs-verständnis zu überprüfen und zu reformieren.
- Die Kosten der alten Globalisierungsstrategien sind eindeutig und vollständig aufzulisten. Dann wird sich auch herausstellen, dass es oft günstiger ist, Lieferketten anders zu organisieren (was wir ja jetzt bereits erleben) und wieder vermehrt auf lokale Möglichkeiten zu setzen – die bei richtigem Einbezug aller Kosten dann oft günstiger sind. So wird auch die Aussage: „Think global, act local“ eine neue Bedeutung gewinnen.
- Es geht auch darum, auf der ganzen Welt für alle Menschen Bedingungen zu schaffen, die diesen ein Überleben ermöglichen und Fluchtbewegungen aus wirtschaftlicher Not heraus reduzieren. Wenn alle auf eine (andere) Seite rennen, entsteht neues Ungleichgewicht.
- Unser Umgang mit Produkten wie Kleidung, Maschinen usw. bedarf der Veränderung. Es kann nicht angehen, dass z.B. Kleidung statt gewaschen einfach weggeworfen wird, dass wir neue Geräte kaufen müssen, weil die alten nicht mehr repariert werden (können) oder dies zu teuer ist und so Rohstoffe im Übermaß verbraucht werden. In der schwäbischen Philosophie wird das so formuliert: „Mit dem alta kammers neu verhalta!“ Übersetzt: Mit dem Gebrauch der alten Dinge kann man die neuen schonen.
Jetzt ist er völlig abgedriftet …
… denken Sie vielleicht, das geht doch alles sowieso nicht. Ich gebe zu, dass es sich hier um ein sehr, sehr großes Rad handelt, das alles andere als leicht zu drehen ist. Und es wird schwierig und herausfordernd sein. Aber: Haben wir eine andere Wahl, angesichts der Lage?
Was bisher getan (und auch unterlassen) wurde hat uns doch in die Lage gebracht, in der wir uns befinden. Der Club of Rome z.B. hat uns schon in den 70er Jahren auf die anstehenden Gefahren aufmerksam gemacht, aber nichts geschah, um diesen zu begegnen. Und: Vor der Zeit des vielen Reisens beispielsweise hätte es ein Virus weitaus schwerer gehabt, die Welt in den Griff zu nehmen (wobei Viren wahrscheinlich sowieso nicht greifen können). Wir haben viele, wenn nicht gar hunderte Jahre gebraucht, uns in die heutige Situation zu manövrieren, da wird es auch eine gewisse Zeit brauchen, da wieder herauszukommen. Allerdings, und das ist sicher, kann diese Zeitspanne nicht weitere hunderte Jahre umfassen.
Wir können mit notwendigen Veränderungen ja schon mal bei uns anfangen, bei unseren Konsumgewohnheiten beispielsweise. Unser Leben soll gewiss nicht trauriger werden, aber gucken wir doch mal genau hin: Was macht denn unser Leben interessant, wertvoll, lebenswert? Ist es mehr der Konsum bzw. die Möglichkeiten zum Konsum oder sind es mehr Beziehungen, kulturelle Möglichkeiten u.a.? Wie kann jeder an seinem Platz etwas zur Nachhaltigkeit beitragen? Auch dann, wenn es „die anderen“ nicht machen?
Schauen wir in die Unternehmen: Wie kann die Arbeit, können die Prozesse so organisiert werden, dass sie zufriedenstellender für die Menschen sind und ein möglichst positives Ergebnis liefern? Hierzu ein Hinweis, den ich vor einiger Zeit erhielt: Home office wird mit sehr großer Sicherheit Bestandteil der Arbeitswelt bleiben, der präsentische Austausch mit Kolleg*innen ist aber auch wichtig.
Künftig könnten die Routineaufgaben im home office erledigt werden, und die Beschäftigten kommen nur noch zum (fachlichen) Austausch, zur Diskussion von Vorhaben etc. in das Unternehmen. Auch ein Modell für die Schule: Zahlen, Daten, Fakten zu Hause im individuellen Lerntempo aneignen, die Wissensanwendung, das Denken dann in der Schule üben. Wie nicht zuletzt die Pandemie gezeigt hat, ist die Schule nicht nur Lernraum, sondern auch Sozialraum und damit unverzichtbar für die gesellschaftliche Entwicklung. Ich halte das für sehr spannende und verfolgenswerte Ansätze.
Auftrag nach Davos
„Wir sind noch längst nicht fit für die neue Welt“, sagt Sven Smit. Da hat er sicher recht, denn die zu bearbeitenden Aufgaben sind gewaltig, größer als alles bisher Dagewesene und dazu noch in einem knappen Zeitfenster zu erledigen. Das größte Problem dabei dürfte nicht auf der Sachebene liegen, da kann man sich manchmal auch schnell einig werden. Es liegt in der Veränderungsbereitschaft der Menschen, denn sie müssen mitgehen, sonst wird das nichts.
Dazu habe ich Hoffnung, aber auch Zweifel: Die Spezies Mensch dürfte die einzige auf der Welt sein, die willens und in der Lage ist, ihre eigene Lebensbasis zu ruinieren – und damit auch ihre eigene Art. Die Dinos sind verschwunden, weil sie sich den äußeren Veränderungen nicht anpassen konnten. Die Menschen erzeugen nicht nur die Veränderungen selbst, sondern passen sich auch nicht an diese an. Der Auftrag nach Davos lautet für alle, sich künftig Gedanken zu grundlegenden Veränderungen sowie notwendigen Entwicklungen und nicht mehr zur Verfeinerung des Bestehenden zu machen. Ich hoffe, dass das in Davos auch geschah, weiß es aber nicht – mich hat man komischerweise nicht eingeladen.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer, einen erholsamen Urlaub und weiterhin viel Gesundheit!
Thomas Zimmermann
und das Team von synthesis
„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“
Albert Einstein