Den Ausschnitt oder das Ganze?

Den Ausschnitt oder das Ganze?

Ein bekannter Versuch mit Kindern, mit dem deren Fähigkeit, Wünsche aufzuschieben, getestet werden soll, geht in etwa so: Die Kinder bekommen eine bestimmte Anzahl Marsh Mellows vor sich auf den Tisch gelegt. Sie erhalten die folgende Information: Wer die verlockenden Marsh Mellows für einen kürzeren Zeitraum nur anschaut und nicht verzehrt, bekommt nach Ablauf des Zeitraumes weitere Marsh Mellows dazu und darf dann alle verzehren. Wer den Verzehrwunsch dagegen nicht aufschieben kann und gleich alle isst, erhält keine weiteren Marsh Mellows und muss sich deshalb aufgrund seines kurzsichtigen Handelns mit weniger zufriedengeben. So weit, so gut.

An dieses in der Fachliteratur sehr bekannte Experiment musste ich denken, als ich von einer höheren Führungskraft eines technikorientierten Kundenunternehmens mit mehreren Tausend Mitarbeitern folgendes hörte: Man hat dort durch einige Maßnahmen auf Wunsch der Investoren die Umsatzrendite auf 9% gesteigert (was für diese Branche sehr hoch ist), und eine dieser Maßnahmen ist, ich wollte es nicht glauben, der völlige Verzicht auf Personalentwicklungsmaßnahmen im Unternehmen. Der entsprechende Bereich im Personalwesen wurde dort aufgelöst, und wer von den Führungskräften jetzt noch meint, seine Mitarbeiter qualifizieren zu müssen, muss das aus den ebenfalls reduzierten eigenen Budgets bestreiten. Der Blick fürs Ganze und für die Zukunft des Unternehmens, Markt- und Wettbewerbsfähigkeit? Fehlanzeige! Personalentwicklung = Marsh Mellows.

Noch ein paar Beispiele gefällig?

  • Um „die Braut für die Börse hübsch zu machen“, wurde bei der Berliner S-Bahn so lange und intensiv an nötigen Investitionen (auch Erhaltungsinvestitionen) gespart, bis das System zusammenbrach, auch nach Jahren bis heute der S-Bahnverkehr weiterhin unzuverlässig ist und die Folgekosten das Eingesparte bei weitem übertreffen.
  • Ein Konsortium bot vor Jahren an, den Berliner Flughafen für rd. 2,5 Mrd. Euro zu bauen. Das können wir billiger, sagte die Politik, mittlerweile ist die 7 Mrd. Grenze gerissen und ein Ende nicht in Sicht.
  • Facebook wurde vor einigen Wochen angezählt, weil die wirklich sehr hohen Gewinne leider etwas unter den Versprechungen blieben und die Investoren bereits bei geringen Abweichungen unruhig werden.
  • Und dann wären da noch die Bundeswehr, die Feuerwehren u.v.a.

In allen (und vielen weiteren) Fällen ist zu konstatieren, dass hier ein jeweils kurzfristig orientierter Blick auf den Ausschnitt des hier und heute die Sicht auf das Ganze und die Zukunft verstellt. Nicht, dass man zu einer solchen Betrachtung nicht in der Lage wäre, vielmehr ist es so, dass man die Sache vom Tisch bekommen möchte und Mahner oder Andersdenkende das Geschehen nur stören und aufhalten.

Gerade in Organisationen, in Unternehmen beobachte ich oft, dass der Blick auf Umgebungsfaktoren oder gar auf das Gesamtsystem und die Auswirkungen von Handlungen auf dieses entweder oft fehlt oder zumindest, aus unterschiedlichen Gründen, ignoriert wird. Man schaut nur auf das, was man aktuell überblickt oder überblicken kann und versucht, diese (subjektive) Realität in Einklang mit den gestellten Herausforderungen zu bringen. Was rechts und links passiert, was ggf. in der Vergangenheit geschehen ist und welche Konsequenzen bestimmte Handlungen für das Gesamtsystem und seine Zukunft haben, wird nicht beachtet oder im schlimmsten Fall bewusst ignoriert. Man will ja fertig werden, muss liefern, Geschwindigkeit geht vor Qualität. Der vielbeschworene Blick über den Tellerrand wird oft gewünscht und wäre auch durchaus nötig, kommt es aber hart auf hart, steht er meist nur im Wege. Ein für mich signifikantes Beispiel sind zahlreiche Zielvereinbarungen zwischen Unternehmen und Mitarbeitern/Führungskräften, die mit deren Einkommen gekoppelt sind. Je nachdem zu welchem Prozentsatz das Einkommen von der Zielerreichung abhängt, mehren sich nicht selten, spätestens aber mit dem Näherrücken und kurz vor Eintreten des Messpunktes Entscheidungen, die vor allem der individuellen Zielerreichung dienen und deren Auswirkungen auf das größere Gesamtsystem nicht weiter Beachtung finden. Für die Zielerreichung werden auch negative Auswirkungen auf den Bereich oder gar das Unternehmen nicht weiter berücksichtigt. Ein gern zitiertes ähnliches Beispiel aus dem kameralistisch geprägten öffentlichen Bereich ist auch das „Novemberfieber“, wo zum Jahresende noch schnell Geld ausgegeben werden muss, um den Haushaltsansatz im nächsten Jahr nicht zu verlieren. Häufig werden dann Dinge angeschafft, die nur geringen oder keinen Nutzen für die Organisation bieten. In der Abendschau des rbb Anfang August gab der Bezirksbürgermeister von Treptow-Köpenick, Oliver Igel,  dafür ein Beispiel: Er begrüßte die zur Verfügung stehenden vermehrten Mittel für die Schulsanierung, beklagte aber auch, dass die Übertragbarkeit der Mittel in das nächste Jahr nicht zulässig sei und man deshalb in der zweiten Jahreshälfte auch Firmen  beauftragen müsse, die zu teuer wären, nur um das Geld noch rechtzeitig auszugeben. Ausschnittsdenken schlägt ganzheitliches Denken. Nur im Öffentlichen Dienst? Nein, beileibe nicht, in den Unternehmen heißt das nur nicht Haushalt, sondern Budget. Ich rate deshalb immer wieder SeminarteilnehmerInnen, alle Kekse und Getränke, die das Unternehmen für die Veranstaltung zur Verfügung gestellt hat, auch zu verzehren, egal was der Magen sagt, damit nicht irgendein Sparfuchs in der Firma auf die Idee kommt, diese Versorgung das nächste Mal einzusparen, weil zu viel davon übrig bleibt.

Dieses eingeengte Denken, welches nur einen Ausschnitt betrachtet und das Ganze oder auch bekannte Faktoren zu wenig berücksichtigt, lässt sich in vielen Unternehmenszusammenhängen beobachten:

  • Da wird eine schnell realisierbare technische Lösung einer zukunftsorientierten, aber aufwändigeren vorgezogen – wer weiß, ob ich für diesen Bereich morgen noch Verantwortung trage? Und mich dann mit den Konsequenzen beschäftigen muss?
  • Da werden Maßnahmen wie z.B. die Sozialbetreuungsangebote für MitarbeiterInnen aus Kostengründen eingeschränkt ohne zu erkennen, dass die Konsequenz hieraus sinkende Arbeitszufriedenheit, ein höherer Krankenstand und anderes, was noch mehr Kosten verursacht, sein kann und oft auch ist.
  • Da werden Aufträge nicht angenommen, weil der Ertrag aus einem Auftrag für das eigene Profitcenter geringer wäre als der für das benachbarte im gleichen Unternehmen, welches in die Abwicklung ebenfalls einzubeziehen wäre, und denen gönnt man wirklich nicht das Ergebnis daraus. Leider keine Erfindung von mir, tatsächlich passiert und nicht nur einmal.
  • Da werden Umstrukturierungen vorgenommen, von denen man sich kurzfristige Verbesserungen verspricht (welche auch oft eintreten), die langfristig aber zu atmosphärischen Störungen und Beeinträchtigungen des Ergebnisses oder zu Kundenunzufriedenheit führen.
  • Da werden notwendige Investitionen in Zukunftstechnologien oder sonstige notwendige Anschaffungen nicht vorgenommen, weil sie das aktuelle Ergebnis belasten würden.

„Kaum hatte ich meinem Gaul das Fressen abgewöhnt“, sagt der Schwabe, „ist das blöde Vieh tot umgefallen“.

Was macht es Menschen oft so schwer, den Blick auf das System zu werfen und das Ganze, zumindest aber bekannte Faktoren und die längerfristige Konsequenz ihres Handelns zu berücksichtigen? Dafür gibt es sicher viele Gründe. Einer davon ist das im Hause oder der Abteilung praktizierte Beurteilungs- und Belohnungssystem. Menschen tun bekanntlich nur etwas, wenn sie etwas davon haben, wenn sie einen Nutzen für sich (und manchmal auch andere) sehen, wie auch immer dieser Nutzen aussehen mag. Sehr deutlich kann man das erkennen, wenn, wie bereits erwähnt, Gehaltszahlungen an bestimmte Ergebnisse gebunden werden. Nahezu alle handeln dann so, dass diese Ergebnisse erreicht werden und sie die Zahlungen erhalten, egal ob diese Handlungen wirklich zielführend sind. Ähnliches kann man überall im Unternehmen beobachten. Fragen Sie sich doch einmal, welches Beurteilungs- und Belohnungssystem in Ihrem Unternehmen (dazu zählen auch Anerkennung, spannende Herausforderungen, Karrieremöglichkeiten, Wecken des Forschergeistes, soziale Anerkennung in der Organisation u.ä.) hinter welchen Erfolgen steht! Was motiviert die Menschen, sich so zu engagieren (oder eben auch nicht)? Ist es gewünscht, sowohl „um die Ecke“ als auch in größeren Zusammenhängen zu denken, zu entscheiden und zu handeln? Wie wird das honoriert? Heißt z.B. die Devise: „Hauptsache, es hält, bis es beim Kunden ist!“, oder spielt Kundenbindung auch eine Rolle? Welche Belohnung löst bei welchem Mitarbeiter was aus, passen die Belohnungen auch zu den MitarbeiterInnen und deren Wertesystem?

Ein weiterer Grund für eingeschränktes Betrachten der Situation ist die oft zitierte Komplexität. Ich glaube, dass jeder Mensch nur ein bestimmtes Feld überblicken kann. Die Größe dieses Feldes wird auch dadurch bestimmt, inwieweit er in der Lage ist, innerhalb dieses Feldes die Zusammenhänge zu erkennen, zu verstehen und noch Entscheidungen treffen zu können. Ist das Feld zu groß bzw. wird subjektiv als zu groß empfunden, dann steigt die Zahl der tatsächlich oder vermeintlich zu berücksichtigenden (unsicheren) Faktoren an, und die Bereitschaft, aber auch die Fähigkeit zu Entscheidungen, sinkt. In diesem Fall werden (unbewusst) solange Grenzen in der Betrachtung gesetzt, bis man man sich wieder entscheidungsfähig sieht und das persönliche Sicherheitsbedürfnis wenigstens einigermaßen befriedigt ist.

Im einen oder anderen Fall wird es vielleicht auch so sein, dass entweder die Fähigkeit/Kreativität oder die Bereitschaft (oder beides) zur Kenntnisnahme von immanenten oder auch externen Faktoren und zu übergreifendem Denken fehlen und das nicht nur, weil es nicht honoriert wird. Die Komplexität des eigenen Gebietes ist schon so groß, da kann man sich nicht auch noch mit dem Umfeld beschäftigen. Oder die Haltung: Was geht mich weitergehendes an, ist nicht meine Baustelle.

Zu wenig Zeit für übergreifendes Denken spielt sicher auch im einen oder anderen Fall eine Rolle: Der tatsächliche oder selbst auferlegte Zeitdruck erlaubt es nicht, sich auch noch mit weitergehenden Konsequenzen einer Handlung zu beschäftigen, schnelle Entscheidungen sind gefragt.

Gelegentlich wird umfassendes Denken in Zusammenhängen auch mit der Forderung nach Hellsehen verwechselt. Dabei geht es oft nur um die Kenntnisnahme und Einbezug bekannter Fakten. Aus der Geburtenrate beispielsweise lässt sich unschwer der künftige Lehrerbedarf voraussagen, und aus der Altersstruktur der Beschäftigten deren wahrscheinliches Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess und der voraussichtliche Zeitpunkt für die Nachbesetzung der Stellen. Tatsache ist, dass sich Zukunft trotz Erfahrungswerten aus der Vergangenheit in aller Regel kaum korrekt vorhersagen lässt, dass niemand vorhersagen kann, was genau in 5 oder 10 Jahren sein wird. Das enthebt m.E. keinen und vor allem nicht Führungskräfte der Verantwortung, das eigene Denken und die zu treffenden Entscheidungen an einem größeren Rahmen zu orientieren. Das gilt auch für die Politik, wo Entscheidungen sich manchmal mehr an der Wahlperiode als am längerfristigen Wohl für Land und Leute orientieren.

Was ist also zu tun? Wichtig: Bitte verlieren Sie nicht Ihre Spontaneität, ad hoc und Bauchentscheidungen sind nicht per se schlecht! Betrachten Sie dann auch ihr eigenes Denk- und Entscheidungsverhalten. Wie längerfristig ist dieses i.d.R. orientiert, inwiefern denken und entscheiden Sie in größeren (Zukunfts-) Zusammenhängen? Gemeint sind hier weniger die tägliche Auswahl der Socken oder des Mittagessens (obwohl, wer weiß?), sondern Entscheidungen im Arbeits-, aber auch im persönlichen Lebenskontext. Im Kontext der Organisation wäre zu analysieren, in welcher Form Leistung und Entscheidungen honoriert werden und ob dadurch übergreifendes Denken unterstützt oder behindert wird. Bekommen z.B. MitarbeiterInnen, die vielleicht weniger Umsatz gemacht, dafür aber einen Kunden längerfristig an das Unternehmen gebunden haben, die gleiche Aufmerksamkeit und Belohnung, oder gibt es da Unterschiede?

Wenn Sie daran interessiert sind, wie übergreifendes Denken zur Unternehmenskultur hinzugefügt werden kann, sollten wir uns einmal unterhalten. Gleiches gilt, wenn Sie Ihre Personal- und Führungskräfte-entwicklung im Sinne langfristiger Unternehmenssicherung optimieren wollen. Sie wissen ja, wo Sie uns finden … Und: Ich bringe Marsh Mellows mit!

Einen erfolgreichen Jahresendspurt wünscht Ihnen

Thomas Zimmermann

und das Team von synthesis