Frühling wird´s (davon gehen zumindest alle aus), und bevor endlich die ersten Schneeglöckchen, Krokusse und Osterglocken Farbe ins Bild unserer Straßen bringen, möchte ich an einen „Satz des Jahres“ erinnern, der mich nicht nur an den langen vergangenen Winterabenden immer wieder ins Nachdenken gebracht hat. Er stammt von unserer ehemaligen Gesundheitsministerin und geht so: „Das steht mir zu!“
„Das steht mir zu!“ Natürlich ist es unfair, Ulla Schmidt allein auf diesen Satz zu reduzieren. Welche Kraft sie über Jahre hinweg hat aufbringen müssen, um einer an vielen Stellen überbordenden Gesundheitsindustrie zu begegnen, kann gar nicht genug gewürdigt werden. Aber ausgerechnet ihr ist dieser Satz entfahren:
„Das steht mir zu!“ Nämlich da, als sie sich rechtfertigen musste, dass sie ihren Dienstwagen samt Fahrer und dessen Sohn für nicht wenig Geld von Deutschland nach Spanien in den Urlaub hat nachfahren lassen.
„Das steht mir zu!“ ist so etwas wie das Leitmotiv der letzten Jahre geworden, die „Krise“ hat es an den Tag gebracht: Banker, die nicht verzichten wollen und sich lieber vom Staat helfen lassen, Politiker, die ohne Rücksicht auf das Gemeinwesen ihre Klientel bedienen, Menschen, die ihr Geld in der Schweiz verstecken und jetzt vor einer CD zittern müssen,
Länder, die Statistiken gefälscht haben, um dem Euroraum beitreten zu können, aber auch Leute, die den Sozialstaat bis in seine letzte legale Ecke hinein ausgenutzt haben.
„Das steht mir zu!“
Ich wage zu behaupten: So geht es nicht. Wenn jeder so denkt, funktioniert am Ende gar nichts. Keine Familie, keine Gesellschaft, aber auch kein Unternehmen. Wenn jeder denkt „Das steht mir zu!“, dann geraten Systeme in Schräglage. Denn wenn man genauer hinschaut, dann funktionieren Systeme gerade deswegen, weil eben so viele Menschen nicht hemmungslos Zugriff auf das nehmen, was ihnen zusteht. Unsere Systeme funktionieren allein deswegen so gut, weil viele Menschen im „wir“ und nicht im „ich“ denken. Die Krise hat uns überdeutlich gezeigt, dass alles mit allem zusammenhängt und dass sich niemand herausnehmen und isolieren kann, ohne unerwünschte Folgen auf das System und damit langfristig auch auf sich selbst als Teil des Systems zu erzeugen.
Wir sind alle miteinander verbunden, mehr oder minder eng, und jeder Schritt der getan wird, hat demzufolge auf alle eine mehr oder minder starke Auswirkung. Märkte werden von Menschen mit unterschiedlichsten Psychen und Kulturen gestaltet, hinzu kommen noch klimatische Bedingungen, die in Stunden völlig veränderte Marktbedingungen schaffen können: Wie genau können da Prognosen sein und wie reif Entscheidungen, die auf diesen Prognosen beruhen? Wenn wir also so weitermachen wie bisher, immer noch der Fantasie von geschlossenen und damit vorhersehbaren Märkten nachhängen und die drängende Botschaft der jetzigen Krise nicht verstehen, wird die nächste Krise uns noch mehr Schaden zufügen. Und sie wird kommen! Schon der bekannte Soziologe Niklas Luhmann sagte: „Die Krise ist das Normale“, und relativ krisenfreie Zeiten sind die Ausnahme, und die Österreicher sagen: „Nix is fix.“ Besonnene Stimmen warnen uns ja und meinen, dass die Krise noch lange nicht ausgestanden ist.
Systemischer Blick
Vorausschauende Unternehmer und Führungskräfte verstehen diese Zusammenhänge und wissen auch, dass es eine Vielzahl bestehender Systemverbindungen gibt (auch wenn diese manchmal ignoriert werden): Jedes Unternehmen ist mit den Mitarbeitern, der Gesellschaft, dem politischen und dem wirtschaftlichen System, den Märkten und noch vielen anderen internen und externen Faktoren verbunden. Es kommt also weniger auf „todsichere“ Prognosen (das sind sie oft auch für den Anleger) als vielmehr darauf an, mögliche Stellhebel zu erkennen und ergebnisoffen zu betätigen. Ergebnisoffen deshalb, weil wir in den letzten 2 Jahren deutlich erkennen konnten, dass bestimmte Aktionen nicht zwangsweise bestimmte Reaktionen hervorrufen, sondern dies allenfalls im günstigen Fall passiert. Menschen sind nicht trivial und Systeme schon mal gar nicht. In aller Regel kann man nur mit eingeschränkter Sicherheit ein Reiz-Reaktionsmuster vorhersagen.
Trotz aller Interdependenzen und der Komplexität kann jeder in seinem Wirkungskreis anfangen, die Lehren aus der Krise – dass sich Komplexität kaum mit starren (Unternehmens-)Systemen bewältigen lässt, sondern Flexibilität auf allen Ebenen gefragt ist und dass alles mit allem zusammenhängt – umzusetzen und somit wieder Einfluss auf das Gesamtsystem zu nehmen. Beobachtung der Märkte und gemeinsame Analysen im Entscheiderkreis unter Hintanstellung der Hierarchie sind ebenso hilfreich wie die Erweiterung der Grenzen im Denken bei den Beteiligten sowie permanente Steigerung der Kontaktqualität im Unternehmen. Bezogen auf die Mitarbeiter kann dies z.B. bedeuten, diese auch als solche zu erkennen: Sie arbeiten mit am Unternehmenserfolg und sollten entsprechend behandelt werden (Wertschätzung, Respekt … siehe vorangegangene Unternehmerbriefe). Das bedeutet konkret, dass z.B. die Weisheit nicht nur (hierarchisch gesehen) „oben“ sitzt. Es fasziniert mich immer wieder, das Mitdenken am Arbeitsplatz i.S. von Verbesserungen bei vielen Mitarbeitern zu erkennen und zu erleben. Nicht umsonst befragt jede Unternehmensberatung im Zuge einer Unternehmensanalyse meist zuerst und umfangreich die Mitarbeiter – um deren Hinweise nachher teuer in einem Gutachten mitzuverkaufen. Warum fragt die Unternehmensleitung nicht gleich Kosten sparend und motivierend die Leute? Warum nutzen wir so wenig die „Weisheit der Vielen“?
Es scheint erforderlich, zumindest in den Unternehmen das Menschenbild radikal (radix = die Wurzel, also von Grund auf) in Frage zu stellen und auf die Tauglichkeit für eine systemische Betrachtung des Welt- bzw. des Markt-geschehens zu überprüfen. Eine systemisch denkende und handelnde Führungskraft fragt sich beispielsweise:
– Wie stehe ich zu meinen Mitarbeitern, welche Bilder habe ich von ihnen?
– Woher kommen diese Bilder, wie valide sind sie?
– Wie behandle ich meine Mitarbeiter vor dem Hintergrund dieser Bilder, und welche Konsequenzen hat das für die Zusammenarbeit auch im Team und für den Unternehmenserfolg, -sicherung?
– Sind diese Konsequenzen immer nützlich?
– Welche Betrachtungsweise wäre günstiger?
– Wie kann ich zu neuen Bildern kommen, die besser auch zu den Erfordernissen des Unternehmens passen?
– Wie kann ich zielorientiert und dennoch ergebnisoffen auf die Mitarbeiter zugehen?
– Was braucht mein Beziehungsgeflecht mit den Mitarbeitern, damit es für die Zielerreichung wirklich nützlich ist?
Es gilt also, das Unternehmen als System zu begreifen und sich bewusst zu sein, dass jede Führungsintervention auf viele Teile des Systems, nicht nur auf eine Person, Einfluss nimmt. Gefragt sind von der Führungskraft Sensibilität, rasches Erkennen von Zusammenhängen, denken in möglichst großen Komplexitätszusammenhängen u.v.m. Auch die Vernetzung der Führungskräfte eines Unternehmens und der rasche und offene Austausch untereinander sind unabdingbar.
Führen im System
Für die konkrete Führungsarbeit bedeutet dies,
– Die Mitarbeiter gut zu beobachten, um sie verstehen zu können;
– ihr Wissen und ihr Mitdenken anzuzapfen und zu nutzen;
– den Mitarbeitern möglichst immer in angemessener Weise die Zusammenhänge eines Vorgehens zu erläutern;
– Verhaltenswurzeln zu erkennen und an diesen zu arbeiten statt kosmetische Maßnahmen zu ergreifen und sich in Vorschriften zu ergehen (Vertrauen ist gut, Kontrolle ist oft teurer);
– auf größtmögliche Klarheit und Verständnis zu achten und wachsweiche, stark interpretationsfähige Aussagen möglichst zu meiden;
– den Menschen immer in seiner Gesamtheit und nicht nur in seiner Arbeitsidentität zu sehen und ihm angemessen die betrieblichen Notwendigkeiten vermitteln;
– den Mitarbeitern stets mit Respekt und Wertschätzung zu begegnen – aber das wissen Sie ja schon….
Eine Konsequenz für die Praxis wäre beispielsweise, dass nicht an der Oberfläche gekratzt werden soll (z.B. noch genauere Arbeitszeit- oder sonstige Kontrollen), sondern die Dinge an der Wurzel anzupacken (z.B. Verbesserung der Arbeitszufriedenheit). Viele Regeln und Vorgaben, deren Durchsetzung und Überwachung jede Menge Geld kosten und schnelles sowie flexibles Reagieren auf den Markt und die Geschehnisse dort oft be- oder sogar verhindern, können bei einer radikalen Herangehensweise, wie beispielhaft beschrieben, reduziert oder sogar ganz aufgegeben werden. Denken Sie nur einmal an die vielen Absicherungsmails in Ihrem Unternehmen, die zeitaufwändig hergestellt und zeitaufwändig gelesen und archiviert werden und nur einen Zweck erfüllen – den Nachweis, auch noch nach Jahren sicherzustellen, dass ich im schlimmsten Falle gewiss nicht schuld bin bzw. gewesen bin. Wie viel könnte hier ein wenig Vertrauenskultur (Unternehmer-brief 3/09) positiv und Kosten sparend bewegen! Gleiches gilt für manche Meetings und viele andere, mittlerweile sinn- und nutzlos gewordene Rituale in Unternehmen.
Wenn es denn Führungskräften gelingt, in systemischen Zusammenhängen zu denken und ihren Mitarbeitern in geeigneter Weise systemische Zusammenhänge zu vermitteln, ist ein gewaltiger Schritt in Richtung Unternehmenssicherheit bzw. Unternehmenserhalt getan. Keine Zeit, kein Geld für solche Dinge? Seien Sie unbesorgt, bezahlt wird immer im System: Die einen zahlen am Anfang, die anderen am Schluss (und dann oft viel mehr). Die nächste Krise kommt bestimmt, wer solcher Art sein Haus bestellt hat, hat weitaus größere Überlebenschancen.
Wenn Sie sich mit uns über eine systemische Betrachtungsweise Ihres Unternehmens austauschen wollen – wir stehen Ihnen gerne zur Verfügung.
Bis dahin wünschen wir Ihnen einen schönen Frühling und gute Geschäftsgänge!
Herzliche Grüße
Thomas Zimmermann und das Team von synthesis
Und noch eine Literaturempfehlung, eine wunderbare Einführung in die systemische Betrachtungsweise von Unternehmen: Fritz B. Simon, Gemeinsam sind wir blöd, Die Intelligenz von Managern und Märkten, Heidelberg 2004, Carl Auer Verlag