Wohin schauen Sie?

Wohin schauen Sie?

ein neues Jahr hat begonnen, und schon in den ersten Tagen drängen sich einige Themen in den Vordergrund, die Anlass zur Sorge geben und nicht gerade den Optimismus stärken:

  • Im Nahen Osten droht eine neue kriegerische Auseinandersetzung mit einem mehr als ungewissen Ausgang (was Kriege so an sich haben);
  • Australien brennt quasi ab und es scheint, dass die Menschen nichts machen, sondern nur zuschauen können;
  • die heimische Industrie wächst kaum noch, und besonders in der Autoindustrie werden Tausende von Arbeitsplätzen abgebaut, und PwC meldet vor dem Forum in Davos, dass die Topmanager weltweit noch nie so schlechte Prognosen für die Zukunft gestellt hätten;
  • eine rasch zunehmende Zahl von Arbeitnehmer*innen ist von Transformationsprozessen betroffen und darf/muss sich auf berufliche Veränderungen einlassen, deren Dimensionen sie nicht abschätzen kann;
  • noch nie war die mehr als kritische Situation unserer Umwelt einem Großteil der Bevölkerung so bewusst, die gleichzeitig ein Gefühl der Machtlosigkeit beherrscht;
  • v.m.

Der Blickwinkel ergibt die Perspektive

Grund genug, den Kopf hängen zu lassen (oder ihn gar in den Sand zu stecken) und alles andere als euphorisch oder zumindest zuversichtlich in das neue Jahr zu starten. Oder doch nicht? Wozu würde das führen? Ich meine, jeder hat die Möglichkeit, seine Blickrichtung selbst zu wählen, nicht nur zu entscheiden, was man sieht/sehen will, sondern vor allem, wie man es sehen will, welche Bedeutung man dem Geschehen gibt, wie man das Gesehene interpretiert. Denn davon hängt ab, wie es weitergeht: Sehe ich mich als „Getriebener“ oder als „Täter“? Konzentriere ich mich auf die Unmöglichkeiten oder suche ich nach den Möglichkeiten? Und dabei geht es nicht um das bekannte Beispiel mit dem halb vollen oder dem halb leeren Glas oder inhaltsfreiem positiven Denken, es geht um mehr: Um die eigene Lebens-qualität, um das selbst gestaltete Leben!

Reflex und Reflektion

Menschen haben den (wie ich meine angeborenen) Reflex, alles, was um sie herum passiert und ihnen wiederfährt, sofort zu bewerten, es mit einer Bedeutung irgendwo zwischen Plus und Minus zu belegen. Diese reflexartige Fähigkeit ist überlebensnotwendig: Schon immer war es für das Individuum wichtig, eine Situation schnell zu beurteilen vor allem, um nicht in ihr unterzugehen. Den Tieren geht es ebenso: Sie entscheiden blitzschnell zwischen flüchten oder standhalten und bleiben. Nur: Die Menschen können etwas, was Tiere nicht können (obwohl man ihrer Physiognomie manchmal meint, entnehmen zu können, dass sie es dennoch tun): Nachdenken, reflektieren, zur ursprünglichen Deutung weitere Aspekte hinzufügen.

Wir sind einer Deutung nicht ausgeliefert, wir können nachdenken und sie revidieren. Dabei spielt allerdings der Zeitfaktor eine gewaltige Rolle: In einer Gefahren-situation ist für eine bewusste Entscheidung meist keine Zeit, hier greifen Automatismen, die häufig auf Erfahrungswerten beruhen und die so auch wichtig sind, um das Überleben (möglichst) sicherzustellen. Kommt bspw. ein Mensch mit einer erkennbar bösen Absicht (nach meiner Interpretation) auf mich zu, der sichtbar größer und stärker ist als ich, werde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht meine Siegchancen bei einem Kampf errechnen, sondern das Weite suchen.

Eine Frage der Zeit

Gott sei Dank ist die Anzahl der Situationen in unserem Leben, die eine automatisierte Reaktion erfordern, für die meisten von uns deutlich geringer als die, welche uns einen Interpretationsspielraum lassen. Dennoch nutzen wir diesen Interpretationsspielraum leider häufig nicht, sondern kommen zu einer schnellen finalen Einschätzung, die wir dann auch nicht oder wenn überhaupt nur aufgrund äußerer Einflüsse reflektieren und anschließend ggf. revidieren. Oft hängt das, besonders in beruflichen Kontexten, auch mit dem Zeitdruck zusammen, der nach schnellen Bewertungen (oft auf Basis geringer Datenmengen) und anschließenden Entscheidungen verlangt. Ein wenig mehr Ruhe und Gelassenheit würde jedoch  die Qualität der Entscheidungen und die damit verbundenen Konsequenzen aber deutlich verbessern!

Nichts ist wie es scheint

In meinem nicht gerade kurzen Beraterleben habe ich u.a. gelernt: Nahezu nichts ist so, wie es scheint, nahezu alles, was man mir erzählt, sind nicht (nur) Sachverhalte sondern (auch) Interpretationen von Sachverhalten. Anders ausgedrückt: Fast nichts ist so, wie es scheint. An dieser Stelle möchte ich Ihnen meine „Stinkstiefel-Theorie“ vorstellen: Immer wieder bekomme auch ich Kontakt zu Personen, die auf mich spontan eher unangenehm wirken, weshalb auch immer. Eine natürliche Reaktion darauf ist, Distanz zu solchen Personen zu suchen, soweit möglich.

Meine Erfahrung hat mich aber gelehrt, dass mir damit eine Menge entgeht bzw. entgehen kann: Denn diese so unangenehm wirkenden Menschen haben doch auch einen privaten Kreis von Menschen (Freunde, Verwandte, Kollegen), die sich nicht von ihnen abwenden, sondern ihnen zugetan sind. Also sind sie wahrscheinlich gar nicht so, wie ich sie wahrnehme! Da habe ich wohl etwas übersehen und tue gut daran, genauer hinzuschauen, ob ich dann nicht zu einer andern Einschätzung dieser Person komme. Wenn ich das dann mache, geschieht sehr häufig folgendes: Ich entdecke einen sehr interessanten und respektablen Menschen, der, wenn man ihn näher kennt, bei weitem nicht so unangenehm ist wie ursprünglich von mir wahrgenommen.

Schwarz oder weiß?

Gleiches gilt für Sachverhalte, die man so oder so betrachten kann: Eher negativ oder eher positiv und am besten aus beiden Perspektiven: Chance und Risiko. Bekannt ist die Geschichte eines (ich glaube indischen) Fürsten, der vier blinde Menschen  an einen Elefanten heranführen ließ und ihnen die Aufgabe gab, dieses Tier zu beschreiben. Der eine stand an einem der Beine und betastete dies, ein weiterer am Rüssel, der nächste an den Ohren und einer am Schwanz. Nachdem sie eine gewisse Zeit den Elefant befühlt hatten, sagte der erste am Rüssel: „Der Elefant ist ein schlangenartiges Wesen …,“ der zweite am Schwanz meinte: „Der Elefant ist ein seilartiges Wesen“, der an den Beinen sprach von einem säulenartigen Tier usw. Ähnliches kann man auch in Unternehmen beobachten, wenn vorhandene Informationen nicht zusammen-getragen, sondern individuell verwertet werden.

Bewertungen und Befindlichkeiten

Typisch für Menschen ist, dass die Interpretation eines Eindrucks sofortige Auswirkungen auf die Befindlichkeit haben, im Guten wie im Schlechten: Ein/e Mitarbeiter*in hat eine zugewiesene Aufgabe nicht erledigt, ->  Ärger, Bluthochdruck, negative Zuschreibung. Ich erfahre, dass dies nicht geschehen ist, weil sie/er aus triftigem Grund verhindert war, -> Sorge, Nachfrage, Blutdruck sinkt wieder, vielleicht sogar Schuldgefühle wegen ungerechter Behandlung. Wenn wir unseren Fokus, unsere Blickrichtung oft auch nur ein wenig verändern und auch mal eine zweite oder dritte Perspektive einnehmen, wird nicht alles gleich besser und manches bleibt auch negativ, aber wir bekommen ein erweitertes Sichtfeld, verändern bzw. vergrößern damit den persönlichen Handlungsraum und ermöglichen so qualitativ bessere und differenzierte Aktivitäten.

Neue Interpretationen geben (Handlungsspiel-)Raum

Vor kurzem verloren wir einen für uns wichtigen Auftrag, der bereits über längere Zeit lief und uns regelmäßige Geldzuflüsse garantierte. Das war nicht schön, aber Realität. Bei der Betrachtung dieses Ereignisses  eröffneten sich uns folgende Interpretationen:

  • Der Kunde weiß unsere Arbeit nicht zu schätzen, selbst schuld! (reaktive Perspektive)
  • Das wird denen noch leidtun, die anderen sind nicht so gut wie wir. (reaktive Perspektive)
  • Warum kam es zu der Kündigung? Was ist unser Anteil, dass es so gekommen ist? (analytische Perspektive)
  • Wie können wir den Kunden auch künftig an unserer Seite halten? (proaktive Perspektive)
  • Wie können wir jetzt mit einem veränderten Angebot in einem veränderten Markt auftreten? (proaktive Perspektive)
  • Welche Chancen zur eigenen Weiterentwicklung, die wir bisher nicht gesehen oder nicht umgesetzt haben, bieten zeigen sich uns jetzt? (proaktive Perspektive)

Perspektivwechsel – das große Ganze im Blick behalten

Mit der Erweiterung unserer Wahrnehmung durch Perspektivwechsel können wir auch besser das große Ganze, die weiteren Zusammenhänge erkennen und so das Geschehen besser verstehen und bewerten. Denn nichts entsteht und geschieht einfach so, alles hat eine vorausgehende Geschichte und Zusammenhänge. Beispiel: Die Regierung fällt eine Entscheidung, das Parlament verabschiedet ein Gesetz, und alle sind schnell mit einer (positiven oder negativen) Bewertung zur Hand. Betrachtet man aber die Vorgeschichte, weshalb es zu dieser Entscheidung/diesem Gesetz gekommen ist, und vielleicht auch die Vorgeschichte der Vorgeschichte, so stellen sich wahrscheinlich ganz andere Bewertungen ein. Aktuell habe ich beispielsweise beim Verhalten des amerikanischen Präsidenten nicht den Eindruck, dass er zu dieser Art von Betrachtung fähig ist. Er scheint von der Komplexität des Weltgeschehens ständig überfordert zu sein und schränkt deshalb seine Wahrnehmung und deren Interpretation auf das Weltbild eines Farmers aus dem mittleren Westen ein: Aktion – Reaktion – fertig.

Komplexitätsreduktion – aber nicht um jeden Preis

Die Konsequenzen für das Geschehen in der Welt sind bekannt. Leider lässt sich ein ähnliches Verhalten auch gar nicht so selten in Unternehmen beobachten. Da werden ad hoc Entscheidungen getroffen und Maßnahmen in Angriff genommen, die sich schon bald als wenig produktiv herausstellen, was man bei Betrachtung der weiteren Zusammenhänge hätte bereits vorher erkennen können. Kurze Zeit später wird wieder alles anders gemacht, und die Beschäftigten fragen sich, ob „die da oben“ eigentlich wissen, was sie wollen. Die so entstehenden Kosten seien nur am Rande erwähnt. Natürlich ist Komplexitätsreduktion wichtig, vor allem dann, wenn es um Entscheidungen geht. Die Frage ist nur, wie weit oder eng der Rahmen gesteckt wird.

Nehmen Sie sich Zeit für Ihr nächstes Urteil

Vielleicht mögen Sie sich für das neue Jahr vornehmen, wo immer möglich nicht gleich nach dem ersten Eindruck ein Urteil zu fällen, sondern sich einen zweiten Blick oder besser, eine weitere Perspektive zu gönnen, die ihnen weitere Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Dabei ist es hilfreich, nicht nur auf das Wort zu hören, sondern auch phänomenologisch zu schauen. Das bedeutet, dass man, vor allem im persönlichen Kontakt, auch auf alles achtet, was die andere Person zeigt, vor allem (aber nicht nur) in der Körpersprache. Genauso kann man auf die Intonation achten und vor allem auf Reaktionen und diese (Achtung!) hinterfragen und nicht interpretieren, was für die meisten von uns mit dem automatisierten Hang zur Bewertung eine Herausforderung darstellt. Es geht darum, sich völlig auf die andere Person und alle ihre Äußerungen, ihren Ausdruck einzulassen und die eigene Wahr-nehmung nicht durch voreilige Interpretationen und Schlüsse einzuschränken.

Verantwortung für die eigene Realität

Jeder trägt für sein Leben selbst Verantwortung. Das gleiche, so meine ich, gilt auch für seine Realität bzw. die Wahrnehmung seiner Realität. Diese entsteht zwar oft genug  ohne das eigene Zutun und verlangt dann nach persönlichen Antworten, und diese wiederum hängen von der Wahrnehmung der Realität und ihrer Bewertung ab. In Folge verändert sich dann die Realität, so oder so. Wenn Sie sich hie und da also entschließen können, ihre Realität unter mehr als einem Gesichtspunkt zu betrachten, kann ich Ihnen versichern: Das Leben wird oft reicher und schöner und vor allem spannender und erfüllender.

Einen guten Start ins neue Jahr wünschen Ihnen

Ihr Thomas Zimmermann

und das Team von synthesis