Der Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro erzählt in seinem bekanntesten Buch „Was vom Tage übrig blieb“ folgende Geschichte (sie handelt von einem englischen Butler, der in Indien für seinen Dienstherrn arbeitete):
„Eines Tages nun war dieser Butler in das Speiszimmer getreten, um sich zu vergewissern, dass für das Dinner alles vorbereitet war, als er unter dem Tisch einen Tiger liegen sah. Der Butler hatte den Raum leise wieder verlassen, darauf achtend, dass die Türen geschlossen waren, und war ganz ruhig in den Salon gegangen, wo sein Dienstherr mit einigen Gästen beim Tee saß. Dort machte er seinen Dienstherrn durch ein höfliches Hüsteln auf sich aufmerksam und flüsterte ihm dann ins Ohr: „Es tut mir sehr leid, Sir, aber im Speisezimmer scheint ein Tiger zu sein. Vielleicht gestatten Sie, dass die Büchse Kaliber 12 benutzt wird?“
Und der Legende zufolge hörten der Dienstherr und seine Gäste ein paar Minuten später drei Schüsse. Als der Butler nach einiger Zeit wieder im Salon erschien, um frischen Tee zu bringen, erkundigte sich der Dienstherr, ob alles in Ordnung sei.
„Oh ja, vielen Dank, Sir“, hatte die Antwort gelautet. „Das Dinner wird zur üblichen Zeit serviert, und ich kann ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, dass bis dahin keine erkennbaren Spuren des jüngsten Vorfalls mehr vorhanden sein werden.“
Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Geschichte (und dem Leid, welches dem Tiger widerfuhr) – würden Sie, wenn Sie einen Tiger unter Ihrem Esstisch sehen, in dieser Ruhe und Gelassenheit reagieren? Vermutlich nicht. Hätte der Diener aber nicht, wie beschrieben, gehandelt, wäre ihm vermutlich kaum noch die Gelegenheit geblieben, seinem Dienstherrn zu berichten. Wobei natürlich noch zu klären wäre, ob der Tiger schon gespeist hatte oder noch hungrig war.
Was sind die „Tiger“ unserer Zeit? Da wären vor allem die vielfachen Konflikte auf der Welt zu nennen, insbesondere der Krieg in der Ukraine, und deren Folgen auf unser Wirtschaftssystem in all seinen Facetten. Die anstehende kalte Jahreszeit, wo ein erhöhter Energiebedarf besteht, beunruhigt aufgrund der drastisch gestiegenen und noch steigenden Preise, die sowohl Organisationen wie auch Familien und Einzelpersonen ängstigen. Aber auch die nach wie vor bestehende Coronawelle, die im Herbst und Winter vermutlich wieder drastisch zunehmen wird, stellt eine Bedrohung dar. Und das ist sicher noch nicht alles.
Der Tiger wird geweckt
Was erleben wir angesichts dieser und weiterer aktueller Bedrohungen? Medien, Interessenverbände aller Art machen einen Höllenlärm (und wecken den „Tiger“ auf). Permanent wird nach dem sonst nicht so sehr geschätzten Staat gerufen, der doch bitte die drohenden Preissteigerungen und Versorgungsengpässe ausgleichen möge – womit, mit welchem Geld? Mit Krediten? Oder ist „der Staat“ jemand, der irgendwo einen Sack voll unerschöpflicher Mittel hat?
Die Staatsverschuldung ist jetzt schon sehr hoch, was wollen wir der nächsten Generation eigentlich hinterlassen? Niemand, keine Partei, keine (großen) Unternehmen, keine Interessenverbände sind sich derzeit zu schade, mit Blick auf die eigenen Interessen ein noch größeres Horrorszenario zu entwickeln: Der Bäcker backt keine Brötchen mehr, das Geld reicht hinten und vorne nicht mehr, wir werden frieren, Unternehmen gehen reihenweise pleite, letztlich könnte sogar die Welt untergehen.
Mich wundert, dass selbst seriöse und intelligente Personen aus der Entscheiderebene sich nicht scheuen, in dieses Konzert einzustimmen. Von diesen oft hoch bezahlten Personen erwarte ich etwas anderes. Und auch die Medien rücken Katastrophenszenarien in den Vordergrund. Vielleicht um Reichweiten und Auflagen zu steigern? Allen gemein ist, dass Teile des Geschehens herausgegriffen und aus dem Zusammenhang gerissen werden, um eigene Ziele zu verfolgen.
Konsequenz: Angst überall, und Rainer Werner Fassbinder hat es mit dem Titel eines seiner Filme auf den Punkt gebracht: „Angst fressen Seele auf“. Auf jeden Fall lähmt sie, verbraucht die Energie, die wir derzeit vielmehr zur Suche nach Alternativen und Lösungen bräuchten und sie paralysiert: Da hat dann der „Tiger“ ein leichtes Spiel.
Die Tatsachen
Tatsache ist, dass die Energiepreise aufgrund des Ukraine-Konfliktes explodiert sind und damit auch die übrigen Lebenshaltungskosten in die Höhe gehen. Die Ursachen sind sicher vielfältig und es lohnt, sich schnellstens auf eine Modifikation des Energiemarktes zu konzentrieren. Das wird aber in den nächsten Wochen noch keine oder wenig positiven Ergebnisse bringen. Tatsache ist auch, dass Einzelpersonen und Familien mit eher geringem Einkommen aufgrund der hohen Energiekosten existenzielle wirtschaftliche Probleme über den Winter bekommen werden.
Die BILD-Zeitung, stets gut informiert, titelte vor einigen Tagen: „Die Rente reicht nicht mal für die Heizkosten!“ und die Gewerkschaft Ver.di sowie der Deutsche Beamtenbund stoßen in das gleiche Horn und fordern deshalb 10,5% mehr Lohn für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Kostenprobleme werden auch manche Handwerksbetriebe und Unternehmen mit hohem Energieverbrauch in erhebliche Schwierigkeiten bringen. Bei diesen Betrieben steht nicht nur die wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel, da hängen auch Arbeitsplätze dran, die verloren gehen können, mit weitreichenden Folgen für unsere Gesellschaft.
Hinzu kommen die sozialen Verschiebungen, die wirtschaftliche Notlagen begleiten bzw. zur Folge haben können. Alles in allem eine so ernste Situation, dass die Energie aller auf deren Bewältigung konzentriert sein sollte anstatt auf das allerorten stattfindende Wehgeschrei, das keinerlei konstruktiven Beitrag leistet. Denn Tatsache ist auch: Niemand weiß, wie streng der Winter wird und wieviel Energie wir dafür wirklich brauchen.
Exkurs: Der Kondratjew – Zyklus
Nikolai Kondratjew (1892 – 1938) war ein sowjetischer Wirtschaftswissenschaftler und gilt als einer der ersten Vertreter der zyklischen Konjunkturtheorie. Die von ihm entwickelte Theorie lässt sich, kurzgefasst, wie folgt beschreiben: In einer Phase des Aufschwungs, bedingt auch durch Entwicklung neuer Technologien (z.B. Eisenbahn) und steigende Investitionen darin, ergibt sich ein positiver Effekt auf das Wirtschaftsgeschehen und seine Entwicklung in Richtung Wachstum. Nach einer gewissen Zeit lässt sich aber der Nutzen, der durch die neuen Techniken erzielt wurde, mit dieser nicht mehr optimieren, es kommt zu Knappheiten, zu einem Rückzug der Investitionen und damit zu einem Abschwung.
In der Phase des Abschwungs wird aber bereits an neuen Ideen gearbeitet, so dass es bald wieder zu einer Phase des Aufschwungs kommt. Kondratjew geht von einem 20-Jahres-Rhythmus aus und hat seine Theorie ausführlich belegt. Bereits seit einigen Jahren beispielsweise beschäftigt uns der Klimawandel und es wird klar, dass wir fossile Energieträger bald nicht mehr verwendet werden können. Schon seit einiger Zeit werden Technologien entwickelt, die für eine Substituierung der fossilen Energieträger mit noch größerer Effizienz geeignet sind. Das eine geht also zu Ende und führt aktuell zu einer Abwärtsbewegung, das andere ist aber schon erkennbar und wird wieder zu einer Aufwärtsbewegung führen.
Prof. Monika Schnitzer, Wirtschaftsweise, sagt: „Die gegenwärtige Energiekrise wird zu einem deutlichen Effizienzschub der deutschen Wirtschaft führen.“ ((Handelsblatt online vom 26.09.2022) Derzeit sind wir auf dem Weg vom 5. zum 6. Kondratjew, Fachleute gehen davon aus, dass sich der 6. Kondratjew mit Arbeit, mit Wissen, Komplexitätsbewältigung, der Veränderung der Kooperation und den Lebensbedingungen auf unserem Planeten beschäftigen wird. Dieser Wandel wird durch die aktuellen Ereignisse nur noch beschleunigt.
Büchse Kaliber 12
Statt zu jammern und zu klagen ist es also jetzt an der Zeit, die Kräfte zusammenzuhalten bzw. zu mobilisieren, dem „Tiger“ ins Auge zu sehen und zu überlegen, wie wir ihn erlegt bekommen (bevor er uns erlegt). Klar ist, dass wir uns alle umstellen dürfen und müssen und unsere Lebensgewohnheiten und Konsumverhalten den geänderten Bedingungen anzupassen haben. Das gilt auch für unser Wirtschaftssystem und die Unternehmen: Es ist einfach ein Unding, dass ein Konzerngebilde mit einem Unternehmen riesige Gewinne macht und eine andere Konzerntochter, die enorme wirtschaftliche Probleme hat, aus diesen Gewinnen nicht unterstützt, sondern für sie staatliche Hilfe beantragt. Die Argumentation ist klar: Jeder muss sein Geld selbst verdienen, wenn wir aushelfen, schmälern wir die Ausschüttung an unsere Shareholder (die über Fondsgesellschaften oft die „normal“ arbeitenden Menschen selbst sind und so den Kreislauf der Selbstausbeutung ungewollt aufrechterhalten). Unser derzeitiges Wirtschaftssystem, das vor allem (noch) auf monetären Gewinn ausgerichtet ist, ist den aktuellen und künftigen Herausforderungen nicht mehr gewachsen: Es hat zu dem geführt, was wir derzeit erleben, und es dürfte nun wirklich klar sein, dass hier Reformen erforderlich sind.
Die Büchse Kaliber 12 könnte vielleicht wie folgt aussehen:
- Niemandem von uns wurde bei der Geburt ein sorgen- und krisenfreies Leben versprochen. Aus vielen Krisen ist etwas Neues, Interessantes entstanden, dass die Welt vorangebracht hat. Das wird auch diesmal der Fall sein, selbst wenn wir alle noch nicht richtig wissen, wie und wohin es gehen und die „Geburt“ ein wenig schmerzhaft sein wird. Aber das wussten wir anfangs bei Corona auch nicht und haben inzwischen Wege des Umgangs damit gefunden.
- Schluss mit dem Jammern und Katastrophieren und dem Kurzfristdenken, stattdessen Konzentration der Energie auf die Suche nach zukunftsfähigen Lösungswegen unter Einbezug eines Gesamtrahmens!
- Begrenzte Beihilfen aller Art für diejenigen Unternehmen, egal ob Handwerksbetrieb oder Industrie, die ihrerseits Modelle vorlegen, wie sie den Winter 2023/2024 energieeffizienter gestalten wollen.
- Gezielte staatliche Hilfen für die Einzelpersonen und Familien, die solche wirklich brauchen. Aber Achtung: Zurecht warnt Wolfgang Schäuble (Tagesspiegel v. 18.09.2022) vor der Förderung einer Versorgungsmentalität! Es gibt auch so etwas wie Eigenverantwortung im Leben eines jeden Menschen, und die dürfen wir ihnen nicht wegnehmen! Keinem wurde bei der Geburt ewiger Wohlstand versprochen!
- Veränderung/Weiterentwicklung unseres Wirtschaftssystems in Richtung von langfristigem Denken, Nachhaltigkeit, Berücksichtigung des gesamten Systems/der Welt und gegen kurzfristige Partikularinteressen.
- Verstärkte Anstrengungen in den Themenbereichen Energieeffizienz, aber auch industrielle und gesellschaftliche Entwicklung.
- Entwicklung von Modellen, die abbilden, wie sich die Welt in den nächsten 100 Jahren entwickeln kann/muss, damit auch noch künftige Generationen auf der Erde leben können.
Und in den Unternehmen?
Unternehmer und Führungskräfte stehen einmal mehr vor besonderen Herausforderungen. Nun zeigt sich, wer führen kann und wer nur eine Visitenkarte mit Titel hat. Wie auch 2008 und 2009 und die Male davor geht es darum, die Mitarbeitenden gut zu informieren, Katastrophenszenarien zu meiden und stattdessen möglichst viele Beschäftigte mit ihren Ideen in Bewältigungsüberlegungen einzubeziehen. Einmal mehr gilt es auch, Flexibilität in den Strukturen zu fordern, denn eins ist sicher: So wie noch bis vor einigen Monaten wird die Welt und die Situation in unserer Wirtschaft nie wieder sein. All das, was in den letzten Monaten geschehen ist, wird Spuren hinterlassen, die sich nicht so beseitigen lassen wie in der eingangs erzählten Geschichte. Was viele Menschen am meisten belastet ist Ungewissheit angesichts der aktuellen und vor allem künftigen Situation, dabei hat sich doch bislang die Welt immer weitergedreht und wird dies auch künftig tun. Leider lassen sich aber aktuell kaum Gewissheiten vermitteln, will man bei der Wahrheit bleiben. Was aber vermittelt werden kann, sind laufend und soweit möglich klare Informationen und Einschätzungen und damit das Signal, dass alle Menschen im Unternehmen mit besonderer Verantwortung hellwach an der Gestaltung der Unternehmenszukunft arbeiten. Dazu passt dann nicht, Katastrophenszenarien in die Belegschaft zu tragen.
Und bei mir selbst?
Angst ist eine der wichtigsten menschlichen Eigenschaften und hat über Jahrmillionen gute Dienste bei der Entwicklung der Menschheit geleistet. Gerade in der jetzigen Situation ist es wichtiger denn je, diese Angst bei sich selbst immer wieder neu zu analysieren und zu bewerten: Wo mache ich mir Sorgen (vielleicht unberechtigt) und wo ist Sorge angebracht? Was aktivieren bestimmte Gedanken in mir, und ist das angesichts der Realität wirklich angebracht? Über welche Resilienzressourcen verfüge ich, wie kann ich sie jetzt ins Spiel bringen, wo sollte ich noch aufholen? Ist es wirklich so schlimm, mit einem Pullover im Zimmer zu sitzen und nicht wie früher, als die Heizung noch höher lief, nur im Hemd? Was brauchen wir wirklich, was bleibt, wenn wir das „nice to have“ weglassen? Was macht meine Lebensqualität wirklich aus?
Gehen wir mal davon aus, dass der Kölner recht hat: „Et hätt noch immer jut jejonn!“ Wir können und sollen Einfluss auf die Dinge nehmen, letztlich gilt dann aber, da so viele Faktoren auf die Ereignisse einwirken: „Et kütt wie et kütt!“ Und das ist dann die Realität, der wir uns stellen dürfen/müssen. Wenn Sie das Bedürfnis haben, sich über die bzw. Ihre nähere Zukunft auszutauschen – Sie wissen ja, wo Sie uns finden!
Einen dennoch schönen Herbst wünscht Ihnen
Thomas Zimmermann
und das Team von synthesis
Und hier noch was zum Lesen:
Händeler, Erik: Kondratjews Gedankenwelt: Die Chancen im Wandel zur Wissensgesellschaft
Ishiguro, Kazuo: Was vom Tage übrigblieb