Zweimal abgeschnitten und immer noch zu kurz

Zweimal abgeschnitten und immer noch zu kurz

Am 13. Januar des neuen Jahres 2021 stellte der Moderator von „Stern TV“, Steffen Hallaschka, während der Sendung und hier in einem nicht enden wollenden Gespräch über die aktuelle Corona-Lage mit Prof. Hendrik Streeck und Prof. Karl Lauterbach plötzlich die Frage, ob angesichts der nur wenig erfolgreichen Restriktionsmaßnahmen der Politik in der Bekämpfung von Corona nicht endlich „der große Hammer“ hervorgeholt werden müsse. „Der große Hammer“.

An diesem Punkt habe ich den Fernseher abgeschaltet und bin zu Bett gegangen, „der große Hammer“ war mir einfach zu viel. Ich halte Herrn Hallaschka zu Gute, dass er diese Frage aus journalistischen Gründen gestellt hat und es hoffentlich nicht seinem persönlichen Denken entspricht. Denn was für ein Denken wird mit und hinter einer solchen Frage deutlich? Was für ein Menschenbild und was für ein Demokratieverständnis offenbart sich da?

Wenn zu kurz, was dann?

Mal ehrlich: Würden Sie ein Gericht, das an der Grenze der Würzung steht, mit noch mehr Salz und Pfeffer traktieren? Wahrscheinlich nicht, denn Sie wollen es ja noch genießen. Würden Sie einem geliebten Menschen, der bestimmte Blumen nicht mag, noch mehr davon mitbringen? Vermutlich nur dann, wenn es mit der Liebe doch nicht so weit her ist und Sie sich daher trennen wollen. Würden Sie ein Bücherbrett, das für eine dafür bestimmte Nische zu kurz geschnitten wurde, nochmals absägen? Eher dann, wenn Sie noch Brennholz benötigen. Wenn Sie von Berlin nach Leipzig fahren wollen und die Stadt, warum auch immer, aber Richtung Norden verlassen, werden Sie dann umdrehen, so Sie ihren Irrtum bemerken, oder fahren Sie einfach weiter Richtung Ostsee, irgendwann wird ja Leipzig kommen?

Paul Watzlawick, der große Kommunikationsfachmann, hat einmal geschrieben: „Wenn Du nur einen Hammer hast, siehst du überall Nägel“. Aber vielleicht sind gar nicht überall Nägel und vielleicht ist dann ein Schraubendreher besser als ein Hammer? Hinter der Sichtweise mit dem „großen Hammer“ versteckt sich, neben einem zweifelhaften Menschenbild, das, was der Psychologe mit „immer mehr vom selben“ bezeichnet. Man führt eine Handlung aus, die leider nicht den gewünschten Erfolg zeitigt. Deshalb macht man das gleiche nochmal und nochmal und beschuldigt die Umstände, dass sich auch beim dritten oder vierten Mal das gewünschte Ergebnis nicht einstellt. Um eine solche Situation aufzulösen, gibt es im NLP eine simple Handlungsempfehlung: Wenn etwas nicht funktioniert, mach doch einfach etwas anderes. Und nicht noch ein fünftes Mal das gleiche! Das verlangt allerdings, dass man den Begriff „alternativlos“ ad acta legt und das Denken erweitert.

Bloß nicht: „Weiter so!“

Ich bin, wie Sie wissen, kein Wissenschaftler, aber ich gehe mit offenen Augen und Ohren durch die Welt und habe einiges Wissen über das Funktionieren von Systemen und das Denken und Empfinden von Menschen in den Jahren erworben. Und das sagt mir folgendes: Weitere Verschärfungen der Corona-Maßnahmen werden allenfalls, wenn überhaupt, einen Grenznutzen stiften, bei dem dann Aufwand und Ertrag (in unserer Gesellschaft ja eine wichtige Größe) nicht mehr in einem akzeptablen Verhältnis zueinanderstehen. Und es wird noch etwas geschehen: Selbst bei den Willigen und Gutmütigen (zu denen ich mich durchaus zähle) wird ein Kipppunkt kommen, wo das Willige ins Gegenteil verkehrt wird nach dem Motto: So, jetzt reichts, ich mache nicht mehr bzw. die neuen Einschränkungen nicht mehr mit. Das würde den ohnehin in unserer Gesellschaft bereits eingetretenen Vertrauensschaden in die Politik, deren Repräsentanten und deren Entscheidungen noch weiter erschüttern, völlig kontraproduktiv wirken und die Spaltung vertiefen.

Um das zu verhindern, könnte man z.B. in die Expertengremien nicht nur Virologen, Epidemiologen und Mediziner berufen, sondern zur Perspektiverweiterung auch mal Soziologen, Psychologen, Philosophen und andere Geisteswissenschaftler und so wirkliche Alternativen generieren. Auch mal einen Kinderarzt übrigens, der berichten könnte, wie seine Patienten den Lockdown erleben und was die vom „großen Hammer“ halten würden. Oder Soloselbständige, Künstler, kleine Gewerbetreibende, die nicht, wie die Teilnehmer im Expertengremium, eine monatlich sichere Gehaltsüberweisung erhalten und einen anderen Blick auf das aktuelle Geschehen haben. „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“, Wahrnehmung und Denken. Aber Perspektiverweiterungen sind, so berichtete „Spiegel-online“ (18.01.2021, Lydia Rosenfelder) und Harald Martenstein im Tagesspiegel (24.01.2021), im Kanzleramt nicht erwünscht. Man hat sich eben auf Nägel geeinigt, da wäre der Hinweis auf Schrauben unangebracht. Unternehmen mit einer solchen Denkweise werden üblicherweise rasch vom Markt abgestraft.

Immer mehr vom selben?

Was braucht es, damit wir das ohnehin zu kurze Brett in der Absicht, es passend zu machen, nicht nochmals absägen? Zunächst erscheint es mir wichtig, sich von monokausalem Denken zu multikausalem und multiperspektiven Denken hinzuwenden bzw. es zumindest zuzulassen. Wenn Sie z.B. ihren Schlüssel suchen, weil Sie das Haus verlassen wollen, und ihn nicht finden, was machen Sie? Sie suchen an den gleichen Stellen wie zuvor nochmal, es könnte ja sein, dass Sie ihn übersehen haben. Und bei Erfolglosigkeit auch ein drittes Mal. Vorschlag: Verändern Sie doch Ihren Suchprozess und schauen Sie auch mal an eher unwahrscheinlicheren Orten nach! Das gleiche gilt für Prozesse in unseren Organisationen: Wenn auf definierten Wegen nicht die gewünschten Resultate erzielt werden, empfiehlt es sich doch, diese zu verändern, oder? Neben dem Weg kann man natürlich auch die handelnden Personen (geeignet bzw. ungeeignet; willig bzw. unwillig) sowie weitere Parameter betrachten und prüfen, ob das Ziel für diese passend oder unpassend ist und daher modifiziert werden muss.

Nicht nur: „Horch, was kommt von draußen rein!“

Wenn Sie in Ihren Organisationen Prozesse verändern und weiterentwickeln wollen, sollten Sie nicht nur externen Beratern zuhören. Die sind wichtig, weil sie eine Außensicht in die Organisation hineinbringen. Hören Sie auch den betroffenen Mitarbeiter*innen zu, denn die denken auch bei der Arbeit (siehe frühere Unternehmerbriefe). Nehmen Sie sich Zeit, hören Sie zu, beziehen Sie die Menschen soweit wie möglich in die Entscheidungsprozesse ein. Und lassen Sie auf jeden Fall den Hammer in der Werkzeugkiste, es sei denn, Sie wollen ihre Organisation in den Abgrund führen.

Oft zitiert wird, dass im Chinesischen (wobei es diese Sprache so nicht gibt) das Zeichen für Krise auch das für Chance sei. In diesem Sinne ist es höchste Zeit, die Chancen, die uns die Krise aufzeigt, zu ergreifen: In den Organisationen, aber auch in den politischen und wirtschaftlichen Systemen, und das muss korrespondierend und Hand in Hand gehen. In den Unternehmen haben wir jetzt die Chance, unser Geschäftsmodell über das Maß, mit welchem es die Krise bereits getan hat, zu prüfen und im Dialog neu auf Märkte auszurichten. Das umfasst dann alle(s): Menschen, Produkte, Prozesse, Kommunikation usw. Zum Wesen der Zukunft gehört die Ungewissheit, und bislang hat da die gute alte Glaskugel keine verlässlichen Hinweise geliefert. Deshalb tut man gut daran, die Veränderungen in den Systemen bzw. deren Weiterentwicklung möglichst selbst mit voran zu treiben, mindestens aber aufmerksam zu beobachten.

Es kommen gewaltige Veränderungen

Und die Veränderungen wird es geben und sicher nicht wenige. Die Krise hat die Verletzbarkeit unseres aktuellen Systems und das der ganzen westlichen Welt mehr als deutlich gemacht. Carla Neuhaus und Marie Rövekamp haben im Tagesspiegel vom 10.01.21 einige Themenkreise aufgezeigt:

  • Rolle des Staates in der Wirtschaft: Unser System wird aktuell fast nur von den Finanzspritzen des Staates am Laufen gehalten. Ist das gut, sinnvoll, in welchem Maße tolerabel? Wohin kann das mittel- bzw. langfristig führen? Was sind die Folgen eines solchen Vorgehens?
  • Starker Sozialstaat: Wie können die Unterstützungssysteme künftig aussehen (Stichwort Grundrente etc.), um die Kluft zwischen arm und reich nicht zu groß werden zu lassen (woran vor allem die Reichen Interesse haben könnten) und dabei gleichzeitig bezahlbar bleiben? Wie wird sich das auf das Wirtschaftsgeschehen auswirken?
  • Veränderte Wertschätzung von Berufen: Kassiererinnen, Krankenschwestern und Busfahrer sind in der Krise zu „Helden“ aufgestiegen, leider ist deren Bezahlung diesem Aufstieg nicht gefolgt. Ist es denn nicht sinnvoll, die Berufe nach dem Beitrag, den sie für das Gemeinwesen leisten, zu bewerten und entsprechend Anerkennung zu zollen? Vielleicht wäre das auch das Ende des promovierten Taxifahrers, weil der Beitrag, den er für die Gesellschaft mit seinen Kompetenzen leisten kann, anders gewürdigt wird und er nicht mehr gezwungen ist, für seinen Lebensunterhalt Taxi zu fahren. Und der Kulturbetrieb nicht (nur) betriebswirtschaftlichen Rechenmodellen unterworfen wird.
  • Ein anders Verständnis von Wirtschaftswachstum: Der „Gott Wachstum“ im Sinne von immer mehr und noch mehr hat ausgedient. Das neue Wachstum heißt Nachhaltigkeit und berücksichtigt alle Kosten, die ein Produktionsprozess verursacht (dann würde die Nummer mit den Elektroautos schon anders aussehen). Und wir müssen uns auch der Tatsache der begrenzten Ressourcen dieses Planeten endlich stellen. Und vielleicht reicht dann das BIP nicht mehr, um den Zustand eines Wirtschaftssystems zu beschreiben.
  • Maßvoller Konsum: Die Krise mit ihren fehlenden Konsummöglichkeiten hat zumindest in einem ersten Ansatz gezeigt, was wir wirklich brauchen. Das heißt nicht, dass künftig nur noch absolut Notwendiges konsumiert werden soll, zum Leben gehört auch Qualität und Freude an Dingen, die nicht absolut notwendig sind. Aber Auswüchse wie Kleidungsstücke, die so billig sind, dass sie nach dem Tragen nicht mehr den Weg in die Waschmaschine finden, sondern über die Mülltonne entsorgt werden, sind nicht zeitgemäß. Ebenso Elektrogeräte, die entsorgt werden, weil die Reparatur nicht mehr lohnt u.v.m. Es kann künftig nicht mehr sein, dass ein kleiner Teil der Menschen die begrenzten Ressourcen der Welt verbraucht und den anderen nicht einmal ein Existenzminimum zur Verfügung steht.
  • Ressourcenverteilung: Oft wird, vor allem im Kontext mit größeren Unternehmen, davon gesprochen, dass Gewinne privatisiert (Ausschüttung an die Teilhaber) und Verluste sozialisiert werden, also über Staatszuschüsse u.ä. der Steuerzahler dafür aufkommt. Beispiel für ersteres ist Amazon, wo die in Deutschland erwirtschafteten Gewinne nicht in Deutschland, sondern in Irland versteuert werden. Beispiel für letzteres sind Unternehmen wie TUI oder Lufthansa oder die Unternehmen, die ohne Not Kurzarbeit angemeldet haben, um staatliche Hilfen in Anspruch zu nehmen. Das NGO Oxfam hat ermittelt, dass die reichsten 1.000 Menschen der Welt durchschnittlich 9 Monate brauchten, um die Einbußen aus der Pandemie (erste Welle) auszugleichen. Die ärmsten Menschen werden das erst in 10 Jahren geschafft haben (Tagesspiegel v. 25.01.2021). Wie lange werden die Systeme dieses Ungleichgewicht aushalten?

Interessant: als es vielen kleinen Unternehmen und Selbständigen zu Beginn der Corona-Krise schlecht ging, wurden sie geradezu vorwurfsvoll gefragt: „Haben Sie den keine Rücklagen gebildet?“ Hatten sehr viele, und viele haben inzwischen schon ihre Altersversorgung angeknabbert oder gar aufgezehrt. Komischerweise hat man großen Konzernen die Frage nach Rücklagen nicht gestellt.

Wie sieht Ihre Zukunft aus?

Ein neues Jahr, ein neues Glück! Davon gehen wir mit großer Zuversicht (siehe Unternehmerbrief vom Dezember 2020) aus und begeben uns auf einen spannenden Entdeckungsprozess, auch bei synthesis. Denn auch unser Geschäftsmodell steht auf dem Prüfstand:

  • Das Seminargeschäft wird durch die online-Möglichkeiten ein anderes werden. Wir suchen Wege, auch bei online-Seminaren Substanz und Qualität zu halten und zu ermitteln, was online und was präsentisch durchgeführt werden muss.
  • Im Beratungsgeschäft werden künftig Besprechungen zu einem größeren Teil online durchgeführt, was Reisezeit und -kosten reduziert. Diagnoseprozesse und entscheidende Meetings werden aus guten Gründen weiterhin vor Ort beim Kunden durchgeführt – nur welche sind die entscheidenden Meetings?
  • Für die Steuerung von Teamentwicklungsprozessen ist die Anwesenheit der Berater vor Ort weiterhin erforderlich. Bei der Supervision der Prozesse ist noch zu schauen, inwieweit hier online oder auf anderen Wegen gearbeitet werden kann.
  • Management-Audits sind bereits jetzt in Teilen online basiert, darüber hinaus ist der persönliche Kontakt für ein belastbares Ergebnis und den Erfolg essentiell.
  • Im Coachingbereich ist und bleibt der persönliche Kontakt für die Qualität sehr wichtig. Einzelcoachings können aber auch mal online durchgeführt werden, Gruppen (kollegiales Coaching) nur, wenn es nicht mehr als 4 Personen sind. In kürzeren Abständen sind Treffen vor Ort erforderlich, um die Qualität zu halten. Generell wird der Coachingbedarf aufgrund der Komplexität des Veränderungsgeschehens zunehmen.

Und dann werden sich noch weitere Themen und Felder erschließen, von denen wir heute noch nichts ahnen, wofür wir aber sehr aufmerksam das Geschehen in Wirtschaft und Gesellschaft verfolgen. Entwicklungen sind willkommen, wir stehen diesen offen gegenüber, Neuerungen erhalten die Spannung im Leben. Wenn Sie über die Veränderungen, die bei Ihnen voraussichtlich anstehen, sich austauschen wollen und der Hammer bei Ihnen allenfalls ein Werkzeug neben anderen ist – Sie wissen ja, wo Sie uns finden!

Viele Grüße, ein gelingendes 2021 wünscht Ihnen

Ihr

Thomas Zimmermann

und das Team von synthesis