Wissen, wann es Zeit ist.

Wissen, wann es Zeit ist.

Thomas Gottschalk, jahrelang Deutschlands beliebtester und erfolgreichster Entertainer, hatte nach dem schlimmen Unfall eines seiner „Wetten-dass“-Kandidaten im Dezember 2010 eine Einsicht: Er wusste, er kann diese Sendung nicht mehr wie bisher weiter gestalten und hörte – nach einer Phase des Übergangs – auf. Hätte er nur wirklich aufgehört! Stattdessen wollte er es allen noch einmal beweisen und scheiterte geradezu kläglich mit einem Neustart im Format eines Vorabendtalks beim Konkurrenzsender. Aber auch hieraus hat er nichts gelernt: Er gibt sich nun weiter (und erneut bei einem anderen Sender) für Sendungen weit unter seinem Niveau her.

Auch Helmut Kohl, der Bundeskanzler, der unser Land 16 Jahre ohne Unterbrechung regierte, hatte den „richtigen Zeitpunkt“ verpasst. Anstatt nach dem deutschen und dem europäischen Einheitswerk, das selbst seine stärksten Kritiker würdigen, abzutreten und im Jahr 1998 seinem designierten Nachfolger Wolfgang Schäuble Platz zu machen, riss er in einer Mischung aus Realitätsverlust und Spendenaffäre seine Partei fast in den Abgrund. Wie so oft in der Geschichte hatte auch Helmut Kohl damit den richtigen Zeitpunkt für einen würdevollen Abgang verpasst, der seine Verdienste gekrönt und ihm die von ihm so sehr gewünschte positive Erwähnung in den Geschichtsbüchern gesichert hätte.

Anders Hans-Dietrich Genscher: Ich erinnere mich noch genau, wie ich damals auf das Radio klopfte, weil ich die Nachricht von seinem Rücktritt – auf dem Gipfel seiner Popularität – nicht glauben wollte. Im Nachhinein erwies sich sein Rückzug als ein enormer souveräner Akt, auch wenn seine Nachfolger die ihnen gebotene Chance nicht nutzen konnten.

Ohne mich geht’s nicht!?

Auch in Unternehmen (und nicht nur Familienunternehmen!) findet sich immer wieder eine solche Problematik: Der Zeitpunkt des richtigen Abganges wird von Inhabern oder Führungskräften verpasst, und es werden auch keine Vertreter bzw. mögliche Nachfolger rechtzeitig aufgebaut. Die Entwicklung ist oft folgende: Führungskräfte arbeiten sich ein, zeigen immer mehr bewundernswerte Leistungen und machen so Karriere. Meist schleichend und unbemerkt stellt sich in Begleitung ihres Erfolges das unbewusste Gefühl der Richtigkeit oder gar Einmaligkeit ein: Ohne mich geht’s nicht. Im schlechten Fall kippt irgendwann das Ganze: Nach und nach verlieren sie den Realitätsbezug und merken nicht, wenn sich im Umfeld die Dinge ändern und sie nicht mehr adäquat handeln, da sie das entweder nicht mitbekommen und bzw. oder ihnen zunehmend die spezielle Handlungskompetenz fehlt. So viele Jahre hat es mit ihrer Vorgehensweise geklappt, der enorme Erfolg beweist es, warum soll es jetzt nicht mehr klappen?

Das Unternehmen beginnt dann auf einem bestimmten Niveau zu stagnieren, da der Entscheider nicht mehr mitwächst. Manchmal geht es auch – zunächst unbemerkt – bergab, kritische Stimmen werden ausgeblendet, und wenn das Desaster unübersehbar wird, ist es für Rettung oft zu spät. Oft gibt es auch keine Retter, da nicht rechtzeitig ein Nachfolger gesucht oder der mögliche Nachfolger entweder klein gehalten oder weggebissen wurde und Externen entweder die Zeit oder das Spezial-wissen oder beides für die Rettung der Unternehmung fehlt. Tragisch für den Unternehmer, könnte man denken. Ich sage: Dramatisch für die Belegschaft, die Schaden nimmt oder gar den Arbeitsplatz verliert, weil eine oder mehrere Personen uneinsichtig waren und sich mehr um sich als um das Wohl und Bestehen des Unternehmens gesorgt haben. Sie riskieren damit oft ihr Lebens-werk, mit viel Kraft und Elan aufgebaut, und das erworbene Ansehen durch das fehlende Erkennen der eigenen Grenzen und eine ebenso fehlende Nachfolgeplanung. Und oft hören wir in der Beratung den Satz: „Wer soll es weiter machen? Ich habe/finde keinen Nachfolger!“ Weshalb ist diese Aussage leider oft richtig, und woran mag das liegen?

In diesen Jahren ist die Zeit der Nachfolgeregelungen. In über 100.000 Betrieben steht der Wechsel des Staffelstabes an, und in sehr vielen gibt es keine Nachfolger. Diese Problematik gibt es ebenso in allen möglichen Führungspositionen, denn die Demographie macht auch vor Führungskräften nicht Halt. Der Mangel an Nachfolgern hat viele unterschiedliche Gründe, u.a. auch den Fachkräftemangel, aber ein zentraler ist, dass die „Amtsinhaber“ nicht abgeben können oder wollen. Ein sehr prominentes Beispiel für das Nicht-Können bzw. Nicht-Wollen sind die Queen und Prinz Charles. Außerdem wissen wir aus der systemischen Organisationsbetrachtung, dass insbesondere bei abhängigen Beschäftigungsverhältnissen zwei gegensätzliche Absichten aufeinander prallen: Der Mitarbeiter bzw. die Führungskraft ist daran interessiert, sich einmalig und so wenig wie möglich austauschbar zu machen und damit die eigene Existenz in der Organisation zu sichern. Die Organisation wiederum ist an der möglichst unproblematischen Austauschbarkeit der Mitglieder interessiert, um sich nicht von diesen abhängig zu machen.

Der Schmerz der Entscheidung

Warum fällt es manchen Menschen in verantwortlichen Positionen so schwer (außer Nicht-Können bzw. Nicht-Wollen), rechtzeitig Nachfolger bzw. Vertreter aufzubauen und sich zum richtigen Zeitpunkt zurückzuziehen? Gehen, wie der Volksmund sagt, wenn es am schönsten ist, und das persönliche Ansehen am größten? Allen ist doch klar, dass spätestens mit ihrem Ausscheiden eine andere Person ihre Position übernehmen wird und muss! Eine erste und einfache Erklärung ist, dass sie schlichtweg nicht daran gedacht und selbst völlig überrascht sind, wenn sie das Rentenalter erreicht haben. Wer konnte dieses Ereignis schon voraussehen? Eine weitere Erklärung liegt im System: Sie haben sich auf ihrem Weg immer wieder gegen andere durchgesetzt (Durchsetzungsfähigkeit wird ja überall sehr geschätzt) und so ihre Position erreicht, indem andere auf der Strecke geblieben sind. Irgend-wann verstärkt sich das Bewusstsein, dass es wohl seine Richtigkeit habe, wenn man selbst vorne stehe, schließlich haben die anderen ja auf dem Weg dorthin verloren oder sind gleich gar nicht erst angetreten. Das kann schon der erste Ansatz zum Realitätsverlust sein: Ich war bzw. bin (immer) auf dem richtigen Weg, sonst wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin. Dieses Denken wird verstärkt, wenn die Handlungen von Erfolgen gekrönt sind. Dann traut man anderen kaum oder gar nicht mehr zu, ebenfalls – und vielleicht auf anderen Wegen – erfolgreich zu handeln. Das Maß an kritischer Distanz zu sich selbst schmilzt dahin.

Gnadenloser Konkurrenzkampf

Der gern in Organisationen angeheizte Wettbewerb in den Führungsebenen, die drohende Ersetzbarkeit durch andere und damit verbunden der mögliche Verlust des Arbeitsplatzes führt u.a. auch dazu, dass man möglichst niemand mehr vertraut (denn alle sägen an meinem Stuhl), sich Konkurrenten vom Leib hält und lieber den Erfolg bzw. Bestand des eigenen Verantwortungsbereiches gefährdet (kein Nachfolger) oder gar des gesamten Unternehmens als den eigenen Stuhl. Wissen ist bekanntlich Macht, und deren Teilung könnte einen zum Verlierer machen. Mögliche persönliche Beeinträchtigungen, z.B. längere Krankheit mit der Folge von Chaos in der Organisation, weil der Know How – Träger oder letzte Entscheider fehlt, werden auch ausgeblendet. Aber wer garantiert uns, dass wir wirklich jeden Morgen wieder gesund zur Arbeit gehen können? Der oft destruktive Wettbewerb zwischen Führungskräften, aber auch Mitarbeitern, von oben oft mit eindeutiger Absicht forciert (si vis pacem, para bellum) führt übrigens dazu, dass sehr viel positive Leistungsenergie sinnlos verschleudert wird und mögliche durchschlagende Erkenntnisse und Erfolge mit Hilfe der Weisheit der Vielen nicht entstehen. In wie vielen Unternehmen wird Teamwork bei allen Gelegenheiten beschworen, aber die Individualleistung besonders honoriert? Unzählige! Der Wettbewerb freut sich über die internen Blockaden beim Konkurrenten und profitiert.

Auch der Identitätserhalt des Einzelnen profitiert oft von dessen Nicht-Loslassen-Können bzw. der Abschottung und spielt eine zentrale Rolle. Gerade Männer definieren sich oft über ihre Arbeit und ihren dortigen Erfolg. Wenn jemand nun klug und vorausschauend handelt und für Ersatz und bzw. oder Nachfolge für seine Position sorgt und dann geht, verliert er einen wichtigen Pfeiler seiner Identität, vor allem dann, wenn „danach“ (also im drohenden Ruhestand) nicht etwas kommt, was ihn in gleichem Maße ausfüllt. Noch schlimmer: Die eigene (relative) Ersetzbarkeit wird bei einer weitgehend problemlosen Nachfolge evident, und der Schein der eigenen Einmaligkeit verblasst. Eine weitere, sehr starke Triebfeder ist für viele auch schlicht der Spaß an der Arbeit und den daraus resultierenden Erfolgen, dadurch die Möglichkeit der Selbstverwirklichung, die sich im Ergebnis auch für die Organisation durchaus positiv auswirken.

So verständlich die Freude am eigenen Erfolg und das Aufgehen in einer Arbeit ist: Wer nicht für Nachfolge bzw. wirklich gute Vertretung sorgt, handelt verantwortungslos gegenüber dem Unternehmen und den Mitarbeitern. Es geht „im Schadenfall“ nämlich nicht mehr um eine Einzelperson, sondern oft um die Existenz des Unternehmens und damit um die der vielen Menschen, die jeden Tag pflichtbewusst ihrer Arbeit nachgehen und im schlimmsten Falle (Ausfall einer bzw. mehrerer zentraler Personen) plötzlich vor dem Aus stehen – nicht weil sie schlecht geleistet haben, sondern weil eine oder mehrere Personen ihrer Verantwortung nicht gerecht wurden.

Raum geben

Was tun? Wer in unternehmerischer Verantwortung steht, letztlich aber auch jede Führungskraft, ist in der aktiven Zeit gehalten, Menschen heranzuziehen, die als Vertreter oder Nachfolger für ihn selbst oder für Führungskräfte und Spezialisten im Unternehmen in Frage kommen. Wirklich gute Führungskräfte haben auch ihre Freude und sehen ihre Bestätigung darin, andere zu fördern, ggf. auch an sich vorbei ziehen zu lassen und somit dem Unternehmen den größtmöglichen Nutzen zu stiften. Leute klein halten und am Weiterkommen hindern, um die eigene Position zu stärken, ist nicht ihre Sache. Sie wissen, dass ihnen jeden Tag etwas zustoßen kann und dass es wichtig ist, dass die Organisation in diesem Falle auch ohne sie funktioniert – wenn auch vielleicht in anderer Weise, denn persönliche Besonderheiten und bestimmte Stärken sind meist nicht 1:1 ersetzbar. Unternehmer und Führungskräfte sind gehalten, auf eine zumindest relative Ersetzbarkeit ihrer selbst und der zentralen Personen ihres Unternehmens zu achten.

Das Leben von Menschen verläuft in Phasen, die einen Anfang und auch ein Ende haben: Kindheit, Schulzeit, Ausbildung und auch die Funktionswahrnehmung in einer Organisation. Meist bereitet eine Phase die nächste vor. Wichtig ist deshalb immer, daran zu denken, dass nach einer Phase nicht das Ende, sondern eine weitere, neue und spannende Phase kommt. Keine Phase im Leben ist unendlich, genauso wenig wie unser Leben selbst. In Bezug auf eine Unternehmerphase oder als angestellte Führungskraft sollte sich jeder beizeiten Gedanken machen, wie die folgende Phase in seinem Leben aussehen kann und welche Schritte zu ihrer Vorbereitung zu tun sind. Organisationen sind gehalten, ihre Mitglieder auf dem Weg in die nächste Phase, in unserem Kontext also dem Ruhestand, zu unterstützen. Die Betroffenen selbst tun gut daran, beizeiten zu überlegen, wie sie die Übergabe der Verantwortung am besten organisieren und wo sie nach dem Ausscheiden aus der Organisation ihre in so vielen Jahren erworbenen wertvollen Kenntnisse und Kompetenzen zum Nutzen anderer sinnvoll einbringen können, und schon während der letzten Jahre der Phase der Berufstätigkeit die entsprechenden Weichen stellen.

Vielleicht haben Sie Lust, einmal ihre Position im Unternehmen ein wenig unter den genannten Aspekten zu reflektieren, der anstehende Herbst ist eine gute Jahreszeit hierfür. Und wenn Sie einen Sparringspartner mit Außensicht beim Denken und Perspektivwechsel wünschen, Sie wissen, wir stehen zu Ihrer Verfügung!

Meine Kollegen und ich wünschen Ihnen weiterhin ein erfolgreiches Jahr 2012, eine glückliche Hand bei den Weichenstellungen für 2013 und grüßen sehr herzlich,

Ihr

Thomas Zimmermann