Weiterbildung hilft bei der Mitarbeiterbindung – ist das wirklich so einfach?

Weiterbildung hilft bei der Mitarbeiterbindung – ist das wirklich so einfach?

Das Jahr nähert sich dem Ende, und viele Menschen nutzen den Jahreswechsel nicht nur dafür, den Autoversicherer zu wechseln, sondern auch ihre Arbeits-stelle. Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von mangelnder Wertschätzung ihrer Person über schlechte Atmosphäre am Arbeitsplatz oder generell im Unternehmen bis hin zu als nicht passend empfundener Bezahlung, dem „Klassiker“ also.

Der Engagement-Index

Wie jedes Jahr hat das Gallup Institut auch in diesem den Engagement-Index Deutschland ermittelt und dafür 1.000 zufällig ausgewählte Arbeitnehmer *innen befragt. Die wichtigsten Ergebnisse der Umfrage sind:

  • 15% der Befragten haben eine hohe emotionale Bindung an das Unternehmen und arbeiten engagiert mit Herz und Verstand (2018: 15%).
  • 69% leisten „Dienst nach Vorschrift“ , sie machen ihren Job, fühlen sich dem Unternehmen aber nicht besonders verpflichtet (2018: 71 %)
  • 16% haben innerlich gekündigt, viele warten auf eine bessere Chance (2018: 14%). Hochgerechnet sind somit 650.000 Arbeitnehmer*innen aktiv auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz.

„Wenn es Dir nicht passt, dann geh´ doch.“ – der Satz kostet

Reisende soll man nicht aufhalten, sagt das Sprichwort. Nur: Reisen verursachen bekanntlich Kosten, in diesem Fall vor allem für das Unter-nehmen, und die sind hier gewaltig. Man rechnet bei der Besetzung einer qualifizierten Stelle mit Kosten von einem Jahresgehalt, bis die/der Neue einen Ertrag liefert. In diese Berechnung fließen ein: Recruitingkosten, Vertretungskosten bis die Stelle besetzt ist, Einarbeitungskosten inkl. des Lohnes derer, die die neue Mitarbeiter*in einzuarbeiten haben, Fehlerkosten der neuen Mitarbeiter*in u.v.m. Da zeigt sich die Brisanz eines Satzes wie: „Wenn es Dir nicht passt, dann geh doch!“ in seiner ganzen Auswirkung. Oder anders: Jeder hat das Recht, sein Geld so zum Fenster hinauszuwerfen, wie er will.

Weiterbildung ist ein Schlüssel

Die Studie legt zum Thema Mitarbeiterbindung nun nahe, die Mitarbeiter *innen verstärkt zu qualifizieren und ihnen so auch die Angst vor einer sich verändernden Arbeitswelt auch im Unternehmen, Stichwort Digitalisierung, zu nehmen:

  • !/3 der Beschäftigten spürt den digitalen Wandel schon am Arbeitsplatz;
  • nur 1/5 gibt an, dass das Unternehmen sie gut darin unterstützt, für die Digitalisierung fit zu werden, und
  • 1/3 fühlt sich darin vom Unternehmen alleingelassen.
  • Fast die Hälfte ist überzeugt, dieses Wissen zu brauchen.

Hier hilft nicht nur Weiterbildung, sie ist im Unternehmensinteresse geradezu erforderlich und eine sinnvolle Investition. Aber immer noch stoße ich auf Vorbehalte seitens der Entscheider wie: Wenn ich die Mitarbeiter *innen qualifiziere, gehen sie anschließend zum Wettbewerb, ich hatte die Kosten, die anderen den Ertrag. Eine solche Befürchtung sagt – nebenbei bemerkt – viel über die Unternehmenskultur aus.

Verstanden und gesehen werden

Ich bin überzeugt davon, dass Weiterbildung sicher ein relevanter Faktor bei der Mitarbeiterbindung (und erst recht für die Unternehmensentwicklung und die Wettbewerbsfähigkeit) ist, aber bei weitem nicht der einzige. Denn bei alleiniger Beachtung der Weiterbildung in diesem Kontext wird der Mensch ein weiteres Mal als Funktionserfüller*in gesehen und nicht in seiner Gesamtheit als Mensch.

Zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen zählt nämlich, sich gesehen und anerkannt zu fühlen. So stellen sich Menschen im Unternehmenskontext (auch oft unbewusst) immer wieder die Frage: Wie kann ich „ich“ sein in diesem Unternehmen, meine Persönlichkeit leben? Wie und wie weit kann ich mein Selbst-Sein, meine Persönlichkeit, das, was mich ausmacht, einbringen? Werde ich als Mensch oder nur als Funktionsträger*in gesehen?

Persönlichkeit im Unternehmenskontext leben

Das ist nun wirklich ein Thema für die Freizeit, worum sollen wir uns noch alles kümmern, mag der eine oder die andere denken, denn gefragt ist doch von 9.00 Uhr bis 17.00 Uhr eine Arbeitsleistung, für die man bezahlt wird. Ja, die ist zweifellos auch und zu Recht gefragt. Aber: Niemand gibt seine Identität morgens, wenn er/sie das Unternehmen betritt, an der Garderobe ab und nimmt sie abends zurück mit nach Hause, so wenig wie unsere Erwartungen, Wünsche, Hoffnungen. Wir sind in unserer Persönlichkeit von 09.00 Uhr bis 17.00 Uhr keine anderen Menschen als von 17.00 Uhr bis 09.00 Uhr.

Wir bringen Freud’ und Leid aus unserem privaten Umfeld in die Organisation mit und nehmen Freud’ und Leid des Arbeitsplatzes (viel zu oft) auch wieder mit nach Hause. Und wir erwarten deshalb (zu Recht), dass wir als diese Persönlichkeiten auch im Unternehmenskontext leben können, wissend um die Einschränkungen, die das Leben und Arbeiten in einer Gemeinschaft dem/der Einzelnen auferlegt.

Wo bleibe ich in meiner Einmaligkeit?

Hier entsteht bzw. kann ein Konflikt zwischen den Bedürfnissen des Einzelnen und den Interessen der Organisation bzw. einzelner Mitglieder der Organisation (z.B. Führungskräfte) entstehen. Ist die Organisation mehr darauf ausgerichtet, schnell (ohne auf die Individuen Rücksicht nehmen zu müssen) und möglichst reibungslos Ergebnisse zu erzeugen, fragt das Individuum: Und ich? Wo bleibe ich in und mit meiner Einmaligkeit?  Für eine erfolgsorientierte und aufmerksame Organisation resultiert daraus die Frage: Was also ist hier der (individuelle) Wunsch, und wie kann er im Unternehmensalltag berücksichtigt werden?

Alle Menschen verfügen über eine i. d. R sehr komplexe Persönlichkeitsstruktur, die im Laufe des Lebens erworben wurde und nicht selten einige sehr fragile Teile enthält. Sie speist das Selbstbild, das Bild also, wie jemand sich selbst sieht und wonach er/sie Teile seines/ihres Verhaltens orientiert. Erfahrungsgemäß deckt sich das Selbstbild nicht in allen Punkten mit dem Fremdbild, also damit, wie ein Mensch in der Organisation von anderen wahrgenommen und infolge dieser Wahrnehmung auch behandelt wird – und (leider) entspricht diese Behandlung durch andere oft nicht dem Selbstbild. Dann entstehen Dissonanzen, die bei der Person u.a. zur Entfremdung gegenüber der Organisation führen können.

Fremdbild versus Selbstbild

Beispiel 1: Ich meine, über eine besondere Kompetenz zu verfügen. Diese Kompetenz wird vielleicht nicht erkannt, zumindest nicht abgefragt. Statt-dessen werden andere Personen bei bestimmten Fragestellungen bevorzugt, deren Kompetenz (zumindest nach meinem Eindruck) bei weitem nicht die Qualität meiner Kompetenz erreicht. Folge: Ich fühle mich nicht gesehen, kann nicht Ich-sein und ziehe mich zurück.

Beispiel 2: Ich werde in der Führungsarbeit genötigt, Dinge zu vertreten oder zu verlangen, die meinem Wertesystem nicht entsprechen und es mir unmöglich machen, der zu sein, der ich nach meinem Selbstbild wirklich bin und mich entsprechend zu verhalten. Diese gefühlte Dissonanz stellt mich vor die Frage „flüchten oder standhalten?“ und kann je nach Antwort dazu führen, dass ich innerlich kündige oder illoyal („Ich sehe das auch anders, aber die da oben wollen das so!“) werde oder/und mich, wenn möglich, nach einem neuen Job umsehe.

Welche Organisation passt zu wem?

Dass man sich in einer Organisation bestimmten, geschriebenen (und oft noch mehr ungeschriebenen) Regeln anpassen (aber nicht in das eigene Selbst übernehmen) muss, ist eine Voraussetzung dafür, Mitglied in diesem System bleiben zu können. Das gelingt nicht immer allen, was dazu führt, dass sich bestimmte Menschen eben nur in bestimmten Organisationen (z.B. öffentlicher Dienst oder Unternehmen) wohl- und aufgehoben fühlen. In eben diesen Organisationen können sie dann besser ihr Selbst leben oder müssen weniger Einschränkungen hinnehmen.

Respekt und Wertschätzung schafft Bindung

Wie findet man nun aus der Führungsposition heraus, heraus was die Mitarbeiter*innen wohl fühlen lässt in der Organisation, sie lebendig macht, ihre Personalität anspricht, sie dazu bewegt, mehr Ressourcen und mit voller Kraft zur Verfügung zu stellen? Vorausgesetzt, man ist daran überhaupt interessiert? Die gar nicht so schwierige (aber manchmal schwer umzusetzende) Antwort lautet: Respekt, Wertschätzung sowie die angemessene Kommunikation von Person zu Person und/oder von Person zu Gruppe.

Das häufige und aufrichtige Gespräch z.B. unter 4 Augen, das sich nicht nur um die dienstlichen Belange dreht, sondern auch die Person und beispielsweise deren Lebenssituation zum Inhalt hat (soweit die Person darüber sprechen will), kann zu persönlichem Wohlfühlen führen: Ich werde hier auch als Mensch und nicht nur als Produktionsfaktor gesehen. Beständiger Respekt und Wertschätzung im Umgang tun ein weiteres dazu, ebenso ein individuell bemessener Gestaltungsraum für die Mitarbeiterin. Dass dennoch nicht allen Wünschen und Vorstellungen der Mitarbeiter*innen seitens der Organisation genüge getan werden kann, ist klar. Aber: Das Verständnis für Einschränkungen wächst, wenn ich spüre, dass ich gesehen und gehört werde, dann kann ich Verständnis entwickeln und auch mit Einschränkungen leben.

Und wo bleibe ich? ­ –  Beispiel Familie

Ein vermutlich Allen bekanntes Beispiel aus dem Leben: Die Entwicklung einer Beziehung zwischen zwei Menschen. Gründet man eine Familie, sind sehr viele persönliche und wirtschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Kommen dann Kinder dazu, kann sich dieser Prozess in die Länge ziehen. In dieser Zeit tritt der Wunsch nach Person-Sein, nach dem Leben des Eigenen in dieser Beziehung oft mehr in den Hintergrund. Die persönlichen Einschränkungen werden zugunsten der großen Liebe akzeptiert. Sind nach einer Zeit die Klippen aber (zumindest teilweise) umschifft, kommt unweigerlich die bislang wegen der Umstände zurückgestellte Frage hoch: Und wo bleibe jetzt ich in diesem Kontext?

Gelingt es dem Paar in dieser Phase, darüber eine offene und wertschätzende Kommunikation zu führen, dass jeweils Eigene und die Wünsche herauszuarbeiten und gemeinsam Wege zu finden, dass dieses jede/r zumindest teilweise leben kann, stärkt dies die Beziehung. Alternativ kann eine Partei zugunsten der anderen verzichten oder zuungunsten der anderen das Eigene durchsetzen, was in vielen Fällen zu Unzufriedenheit und oft auch zu Trennungen führt.

Wenn das Start-up wächst – Ist das noch „mein“ Unternehmen?

Anderes Beispiel: Start-up Unternehmen. In der Anfangsphase (die auch mehrere Jahre dauern kann) ordnen die Beteiligten viele eigene Wünsche an Bezahlung, Freizeit, Arbeitszeit und Erwartungen dem großen Ziel unter, auch weil sie für das große Ganze „brennen“ und sich mit ihren besonderen Kompetenzen gut einbringen können.

Dauert dieser Weg aber zu lange oder führt das Erreichen der Ziele dazu, dass die Organisation wächst und deshalb organisationale Strukturen eingezogen werden, schwinden Engagement und Rücksichtnahme und das Eigene meldet sich: Was bringt mir das alles? Warum soll ich mich jetzt/diesen organisationalen Vorgaben unterordnen? Wie kann ich mich angesichts dieser Entscheidungswege noch einbringen? Auf dem Weg zum „richtigen“ Unternehmen verfallen nicht wenige Start-ups (oft wachstums-bedingt) einem Hang zur Überorganisation und bemühen sich zu wenig, die bisherigen Erfolgswege in die größere Struktur zu transformieren. Das wiederum führt zu Unzufriedenheit und Reduktion der Leistungsbereitschaft, denn „früher war alles besser“.

Mitarbeiter mit Engagement gesucht

Nun mag man einwenden, dass mit der sich abzeichnenden wirtschaftlichen Entwicklung und damit der einhergehenden mögliche Reduzierung der Möglichkeiten für die Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt von diesen wieder mehr Bindung an bzw. Treue zum Unternehmen entstehen wird. Das mag sogar sein – mehr Engagement und Mitdenken ist damit aber nicht verbunden, da die Motivation sich dann auf die regelmäßigen Gehaltszahlungen reduziert und nicht auf Gestaltung. Wer aufrichtiges Engagement und Mitdenken für ihre/seine Organisation wünscht und die daraus resultierenden Leistungsverbesserungen, wird nicht umhin kommen, sich mit der Frage, wie mehr Selbst-Sein für die Organisationsmitglieder realisiert werden kann, zu beschäftigen. Natürlich ist das nicht alles, Weiterbildung und andere die Mitarbeiter fördernden Maßnahmen behalten ihre Wichtigkeit. Aber ohne die vorgestellten Anregungen werden diese Maßnahmen nur teilweise wirksam sein.

Wenn Sie diese Gedanken weiterführen und in Ihre Unternehmenspraxis integrieren wollen – Sie wissen ja, wo Sie uns finden!

Viele Grüße,

Ihr Thomas Zimmermann

und das Team von synthesis.