Vermutlich werden Sie bei Lesen der Kopfzeile aufgrund des unvermittelten „Du“ ein wenig gestutzt haben, wo Sie doch sicher eher ein „Sie“ erwartet haben. Zusammengezuckt bin ich auch vor vielen Jahren, als Ikea begann, alle Kunden mit „Du“ anzusprechen, was in Skandinavien üblich sein mag, hier jedoch nicht so recht zu unserem Kulturkreis passen will bzw. wollte. Ein ähnliches Erlebnis hatte ich vor mehr als 20 Jahren, als in Berlin das Hard Rock Café eröffnete, ich dieses neugierig auf Konzept und Angebot mit einem Kunden besuchte, der damals deutlich älter war als ich und wir dann am Tisch von einem Mitarbeiter des Restaurants mit „Hallo, ich bin Klaus, wie geht es Euch denn heute?“ begrüßt wurden. Mein deutlich lebensälterer Gesprächspartner hat das viel besser (und schneller) verarbeitet als ich und antwortete: „Gut, und Dir auch?“ Ein mehr als unangenehmes Gefühl blieb aber bei mir zurück, und ich habe das Lokal nie wieder besucht. Vielleicht ein Fehler, ich weiß es nicht.
Seit diesen Ereignissen hat das unaufgeforderte Duzen weite Kreise gezogen. Telefonanbieter, andere Dienstleister und Warenanbieter sprechen ihre Kunden offensiv mit „Du“ an, ohne Rücksicht darauf, ob die das auch wollen. „Hol Dir Dein persönliches XY“, fordert die Werbung auf und suggeriert hier bereits den Besitz. Wenn ich nun dorthin gehe, mein persönliches XY hole und nicht bezahle (denn es ist ja –nach dieser Ansprache- schon meins), dürfte ich sicher einige Probleme bekommen. Oder: Früher war es nur die Krankenkasse, heute ist es „meine“ Krankenkasse. Bei der Höhe der von mir zu zahlenden Beiträge habe ich manchmal auch ein Besitzgefühl, das in der Realität aber leider nicht bestätigt wird. Vodafone drängt mir eine App mit den Worten „Installiere sofort diese App“ auf, die ich nicht angefordert habe und ich auch nicht will. Obwohl ich diese Aufforderung gelöscht habe, kommt sie wenige Minuten später wieder zurück auf das Display. Das interpretiere ich als ein Eindringen in meine Privatsphäre, gegen das ich leider nichts machen kann. Und noch ein Beispiel: Die App für Taxis heißt „myTaxi“ und nicht einfach nur „Taxi“. Man kann sich schlichtweg gegen diese Distanzlosigkeit kaum wehren, allenfalls durch Konsumverzicht.
Durch diese (oft aggressiven) Formulierungen wird versucht, eine real existierende Distanz zu verringern oder gar aufzulösen. Was wird damit bezweckt? Ich vermute, dass auf diese Weise versucht wird, eine (scheinbare) Nähe zwischen Anbietern und Kunden zu installieren nach dem Motto: Wir haben doch alle die gleichen Interessen, sitzen doch alle im gleichen Boot, wenn du mitmachst, bist du ein Teil von XY und keine namenlose Einzelperson mehr. Eigentlich gehört die Sache schon dir, du musst sie nur noch holen, die Schwelle ist doch so niedrig. Real existierende Distanzen, Unterschiede sollen so überbrückt werden, tatsächlich aber werden sie einfach ignoriert. Ist das die Absicht hinter diesem Vorgehen? Aber – und das will ich hier einwenden: Vielleicht machen diese Distanzen für die Menschen Sinn?
Schüler und Studenten duzen sich wie selbstverständlich, und das ist auch völlig in Ordnung. Studenten und Professoren eher seltener, wobei dies aber auch vor allem dann zunimmt, wenn sich Professoren von Studenten beurteilen lassen (müssen) oder diese bei einem Professor auch promovieren. Mitglieder von Ausbildungs- bzw. Arbeitsgruppen in Unternehmen duzen sich auch oft, wobei das aber auch von der Organisationskultur abhängig ist. Wird der neue Mitarbeiter mit den Worten „Wir duzen uns hier alle“ begrüßt, weiß er, was die Stunde geschlagen hat und wird sich in aller Regel nicht gegen das Duzen verwahren, wenn er nicht von vornherein seinen Ausschluss aus der Gemeinschaft riskieren will. Ob er sich damit wohlfühlt, bleibt dahingestellt, denn das den Freunden vorbehaltene „Du“ ist jetzt auch auf Menschen anzuwenden, die man kaum kennt und zu denen sich eine Nähe und Vertrautheit, die mit dem „Du“ einhergeht, noch nicht entwickelt hat. Die Regel: „Freunde sucht man sich aus, Kollegen sind schon da“ wird außer Kraft gesetzt.
In Unternehmen, vor allem Startups, aber auch in Konzernen, wird über die Hierarchieebenen hinweg zunehmend mehr geduzt. Zuerst verschwand die Krawatte, dann das „Sie“. Was ist der Sinn, was die Absicht? In Startups eint das gemeinsame starke Ziel, häufig die vergleichbaren Lebensalter und der Prozess mit gemeinsamen Geschichten der Mitglieder, der diese Organisationen entstehen lässt und von ihnen gemeinsam erlebt und erlitten wird. In Großunternehmen haben vermutlich schlaue Unternehmensberater der Führungsspitze zum „Du“ statt „Sie“ geraten, weil „man“ das jetzt so macht, es in agilen Unternehmen (zu dem man gerne werden möchte) üblich ist, die Kommunikation angeblich beschleunigt und damit die Mitarbeitenden noch mehr bzw. schneller in der gleichen Zeit leisten. Dann zeigt sich der Vorstandsvorsitzende der Mannschaft ohne Krawatte, mit Turnschuhen zum Anzug und verkündet leutselig, man könne ihn ab sofort Duzen und die gesamte Führungsriege gleich mit, von denen der eine oder andere dieser Aussage bei ihrer Verkündigung mit gequältem Lächeln zustimmt. Man könne immer mit jedem Problem zu ihm kommen, führt er seine Rede fort, schließlich habe man ja gemeinsam das Wohl des Unternehmens im Auge und insofern säßen alle in einem Boot, da könne man sich doch auch auf gleicher Ebene begegnen. Der eine oder andere Mitarbeiter findet das toll und glaubt, nun mit dem Chef auf einer (Kommunikations-) Ebene zu sein. Und manch ein Mitarbeiter denkt dann, dass das Bild mit dem Boot wohl stimme, allerdings sitzt einer am Steuer und die anderen müssen rudern. Und vielleicht will der eine oder die andere Mitarbeiter/in den Chef gar nicht duzen, sondern wünscht sich mehr Distanz?
Was also ist der Sinn, was die Vor- und Nachteile von Siezen und Duzen?
Wenn Menschen in Kommunikation miteinander treten, müssen sie in irgendeiner Form ihre Ansprache adressieren, damit der/die Gesprächspartner/in auch weiß, dass er/sie gemeint ist. Hat man noch im Mittelalter die 3. Person dafür bemüht („Wolle er sich rasch um diese Angelegenheit kümmern!“) ging man später auf eine direktere Ansprache über („Kümmern Sie sich bitte um diese Angelegenheit!“) und versucht nun, das noch dichter hinzubekommen: „Kümmere Dich mal darum!“. Die Distanz verändert sich m.E. so augenfällig, dafür wächst (zumindest der moralische) Druck. Einem „Können Sie das bitte übernehmen?“ ist mit einer wie auch immer gearteten Erklärung leichter zu entkommen als einem: „Kannst Du das bitte machen?“, vor allem dann, wenn die „Wir-sitzen-doch-alle-in-einem-Boot“- Atmosphäre eine Rolle spielt, da lässt es sich bei einem „Du“ oft schlechter nein sagen.
Das „Sie“ verhilft auch zu einer gewissen Distanz und markiert auch oft einen (hierarchischen) Unterschied. Unterschiede in Rollen, Verantwortung, Entscheidungsbefugnissen etc. gibt es in jeder Organisation zuhauf, diese haben eine Funktion und werden durch ein „Du“ auch nicht verringert oder gar verändert. Für viele Menschen ist die Arbeit zweifelsohne ein wichtiger Teil ihres Lebens, aber sie ist nicht ihr Leben. Dieser Teil des Lebens, die Arbeit hat auch ihren Platz, der unter anderem mit einem „Sie“ in den dienstlichen Kontakten markiert ist. Ich möchte z.B. auch mit meinem Chef nicht so eng sein, er/sie ist mein Chef und wir haben keine freundschaftliche, sondern eine funktionale Beziehung, und dabei soll es bleiben. Gleiches gilt auch für alle andern geschäftlichen Kontakte und genauso für die nachbarschaftlichen. Das „Du“ ist Familie und Freunden vorbehalten, Menschen, mit denen ich einen engeren Kontakt haben will und pflegen möchte. Kennt man vormals fremde Menschen ein wenig länger, empfindet Sympathie für sie und schätzt den Kontakt zu ihnen, so kann man mit dem Angebot des „Du“ und der Annahme dieses Angebotes durch den anderen den Kontakt noch vertiefen und auf eine höhere Qualitätsstufe heben. Das Angebot des „Du“ stellt also eine Aufwertung der Beziehung dar, reduziert Distanz und ist m.E. auch mit einer gewissen Verantwortung für den anderen verbunden, da es Distanz reduziert. Oft ist die Ablehnung eines Wunsches von einer „Sie“-Person leichter als das gleiche einer „Du“- Person abzuschlagen.
In unseren Seminaren wird immer mal wieder von den TeilnehmerInnen gleich zu Beginn die Frage aufgeworfen, ob man sich duzen oder siezen wolle. Viele Trainerkollegen bieten dann das „Du“ an, vielleicht in der Annahme, so die TeilnehmerInnen auch inhaltlich besser zu erreichen. Ich lehne das ab und biete stattdessen an, dass die TeilnehmerInnen sich gerne duzen könnten, wenn Sie das wünschten, ich aber beim „Sie“ bleibe und ich das auch von diesen mir gegenüber erwarte. Ich meine, dass das die Funktionalität des Trainers unterstützt und auch den Teilnehmern leichter macht, ggf. zu kritisieren, was beim „Du“ vielleicht schwerer fällt. Im übrigen, und das gilt auch für geschäftliche Kontakte, wird der wirkliche Grad der Distanz nicht (nur) durch die Wahl der Anrede, sondern durch den Umgang miteinander bestimmt.
Das „Sie“ ist auch ein Zeichen von Respekt gegenüber der anderen Person und ihrem Persönlichkeitsraum. Mit dem „Du“ werde ich eingeladen, näher zu treten. „Sie“ schafft natürlich auch eine gewisse Distanz und hebt die Funktionalität der Beziehung hervor. Deshalb meine ich, dass der Gebrauch des „Sie“ in Unternehmen durchaus angezeigt ist, denn dort herrschen funktionale Beziehungen vor. Wer es gerne enger mag, hat auch früher schon Kollegen das „Du“ angeboten. Dass allein mit dem „Du“ Kommunikation und Kooperation schneller und reibungsfreier werden, halte ich für ein Gerücht. Auch kann der Gebrauch des „Du“ viel Raum (vielleicht gerade deswegen, weil die gefühlte Distanz geringer ist) für soziales Faulenzen oder Leistungsverweigerung bis hin zu massiven Konflikten geben. Die eine oder andere politische Vereinigung, bei der das Duzen zur Kultur gehört, gibt dazu reichlich Anschauungsmaterial, gleiches gilt für Arbeitnehmerorganisationen, wo fast immer geduzt wird, aber dadurch Distanzen nicht immer reduziert werden.
Wie fast immer ist der Kern in der gesamten Angelegenheit die Einstellung des Handelnden, die sich dahinter verbirgt. Unabhängig von Sie und Du: Wenn ich z.B. als oberster Hierarch ein Du anbiete, aber bei meinem z.B. distanzierten oder gar wenig wertschätzenden Verhalten gegenüber einer anderen Person bleibe, ist nichts gewonnen. Der andere erkennt die Unaufrichtigkeit und ist verstimmt. Gleiches gilt natürlich für alle derzeit „angesagten“ Verhaltensweisen wie Wertschätzung, Empathie u.ä. Alle diese Verhaltensweisen sind enorm wichtig für die Organisationskultur. Verbirgt sich dahinter aber nicht auch eine offene und am Menschen interessierte Haltung, kann man dergleichen sofort wieder vergessen. Wer ohne innere Deckung so spricht und handelt, wird als inkongruent erlebt. Deshalb lieber ein aufrichtig schwieriger Mensch als jemand, der in den Kreideeimer gefasst hat und bei dem man nicht wirklich weiß, woran man ist.
Also: Wenn Ihnen danach ist, können Sie gerne in Ihrem Unternehmen das Sie durch ein Du ersetzen, flächig oder in Einzelbeziehungen. Nur: Aufrichtig gemeint sollte es sein und überlegt und nicht funktional.
Viele Grüße und schöne Ostertage,
Ihr Thomas Zimmermann
und das Team von synthesis