Sie kennen die Geschichte, die in unserem Kulturkreis jedes Jahr die zentrale Rolle zum Jahresende spielt: Da ziehen ein Mann und seine hochschwangere Frau durch die Lande, um sich in einer entfernten Stadt im Rahmen einer Volkszählung in entsprechende Bücher eintragen zu lassen (noch keine elektronische Datenerfassung!).
Aufgrund des langen Weges wird eine Übernachtung fällig, aber keine Herberge nimmt die beiden auf. So finden sie Zuflucht in einem Stall und sind gezwungen, auf einem Strohlager unter den aufmerksamen Blicken von Ochs und Esel zu nächtigen. Und just gerade jetzt gebiert die Frau ihr erstes Kind, hinein in diese (vermutliche) Trostlosigkeit des Stalles und die gesamte Situation.
Von Wohlstand weit und breit nichts zu sehen, zumindest so lange, wie die Heiligen Drei Könige nicht ihre Geschenke abgeliefert haben werden. Und doch ein Ereignis, das bis heute einiges mit Wohlstand zu tun hat – nur mit einem anderen.
Was umfasst den Begriff Wohlstand?
Wenn wir heute an Wohlstand denken oder über Wohlstand sprechen, so assoziieren sich hier meist Gedanken und Begriffe wie Besitz, Vermögen, gesellschaftliche Situation und/oder Position u.v.m., also vieles, was mit materiellen Werten zu tun hat.
Aber ist das schon alles, der ganze Wohlstand? Und: Können wir uns einen solchen Wohlstandsbegriff dauerhaft leisten (dazu später mehr)? Macht uns das glücklich, zuversichtlich (ich habe ja fast alles), mutig und zufrieden mit unserem Leben? Gerade in der heutigen Zeit? Oder beeinträchtigen uns nicht auch (bei manchen chronische) Unzufriedenheit, Hetze, Stress, Einsamkeit, innere Leere, Süchte? Könnten das Signale innerer Armut bei/trotz materiellem Wohlstand sein?
Besitz ist nicht alles.
Vor einigen Wochen hörte ich einen Vortrag von der „Autorin und Impulsgeberin für kulturellen Wandel“ (so beschreibt sie sich selbst) Vivian Dittmar zum Thema „Echter Wohlstand“. Sie lebte bislang auf verschiedenen Kontinenten und hat nach eigenem Bekunden in Asien Menschen erlebt, die wenig hatten und dennoch auf eine andere, schwer greifbare Weise reich waren. Unter anderem inspirierte sie das zu ihrer Arbeit und auch zu diesem Vortrag.
Assoziiert man Wohlstand nur mit Besitz, wie oben beschrieben, erhebt sich natürlich laut Vivian Dittmar sofort die Frage, ob man denn dann für „echten“ (also nicht mit materiellem Besitz verbundenen) Wohlstand verzichten müsse und ggf. worauf. Nein, sagt Vivian Dittmar, im Sinne eines wirklich guten Lebens in echtem Wohlstand ist aber ein ökologischer Wandel ebenso wie ein weitgehend entmaterialisierter Wohlstandsbegriff erforderlich.
Die fünf Dimensionen
Sie skizziert fünf Dimensionen echten Wohlstandes jenseits materiellen Wohlstandes bzw. von Wohlstandsmöglichkeiten, die wir eigentlich schon haben, aber uns wieder einmal bewusst und damit erlebbar machen können:
Erste Dimension: Zeitwohlstand.
Heißt, mit sich selbst in der Zeit in Einklang zu sein, Erlebnisse genießen können, sich Zeit zu nehmen und sie nicht vertreiben müssen: Das Wort „Zeitvertreib“ gibt es meinem Wissen nach nur in der deutschen Sprache! Worauf lässt das wohl schließen, wo doch die Zeit verstreicht und dann unwiederbringlich vergangen ist?
Für die Kultur des Miteinander in Unternehmen würde das z.B. bedeuten, dass es klare Regeln zur Offline-Zeit gibt und niemand dauernd erreichbar sein muss. Dass z.B. Vertrauensarbeits-zeit eingeführt wird, überflüssige Meetings abgeschafft und die verbleibenden gestrafft werden, damit mehr Zeit u.a. für die Pflege eines guten Miteinander bleibt. Nehmen wir uns einfach die Zeit für das, was uns bereichert, erfüllt! Jeder Mensch hat 24 Stunden am Tag, wie nutzt er sie?
Zweite Dimension: Beziehungswohlstand.
In wieviel Beziehungen bzw. Freundschaften können wir wirklich selbst sein, uns zeigen, wer und wie wir sind, uns nicht verstellen müssen? Wie viele Menschen, die uns Halt geben, und wir denen, haben wir in unseren Beziehungsgeflechten?
Welche Bedeutung bekommen bei einer solchen Betrachtung wohl die „Follower“ aus den „sozialen“ Netzwerken (wobei auch hier, so wurde mir versichert, in selteneren Fällen tiefe Freundschaften entstehen können)? Warum klagen zunehmend mehr Menschen über Einsamkeit? Für die Kultur des Miteinander in Unternehmen verlangt das nach Führen auf Augenhöhe, der Schaffung von Begegnungsräumen real wie virtuell, Förderung von Beziehung und Reduktion von Ungleichheiten.
Dritte Dimension: Kreativitätswohlstand.
Geben wir uns Zeit, um unsere Talente zu entwickeln, z.B. in der Musik, in der Kunst oder dem Sport usw.! Geben wir uns die Zeit, (dann) in einem Flow-Zustand (Mihaly Csikszentmihalyi) zu verweilen und uns, auch in der Umwelt, ganz zu spüren!
Für das Geschehen in Unternehmen würde das bedeuten, Potenziale der Mitarbeitenden zu erkennen und (auch bei den vielleicht weniger Angepassten) Talente zu fördern, was allerdings wiederum einen tieferen Kontakt zu den Beschäftigten voraussetzt. Wo immer möglich Arbeitsprozesse so gestalten, dass sie für die Ausführenden freud-voller, gehalt- und sinnvoller sind. Den Einzelnen zu ermutigen, wo (im Organisationskontext) möglich und sinnvoll, auch den eigenen Leidenschaften zu folgen.
Vierte Dimension: Spiritueller Wohlstand.
Die Kulturen der Welt geben uns viele Hinweise zu unterschiedlicher Betrachtung des Lebens und uns selbst im Universum. Die Kunst, über die Wunder der Welt (im positiven Sinne!) zu staunen, hilft bei der Begegnung mit dem großen Ganzen.
Die spirituellen Traditionen aus dem Christentum, dem Judentum, dem Buddhismus und auch dem Islam geben hier viele weitere Anregungen. Im Unternehmenskontext könnte z.B. eine Achtsamkeitspraxis gefördert, ein „Raum der Stille“ für Reflexion eingerichtet (siehe frühere Unternehmerbriefe) und die Menschen ermutigt werden, mehr auf Intuition und Inspiration zu achten.
Fünfte Dimension: Ökologischer Wohlstand.
Der besorgniserregende Zustand unserer Erde und die daraus resultierenden, oft katastrophalen Konsequenzen sind bekannt. Beim ökologischen Wohlstand geht es darum zu verstehen, dass wir grundsätzlich in einer gesunden, natürlichen und lebensfördernden Umgebung leben, die wir erhalten müssen.
Sie kann als solche erhalten bleiben, wenn wir unsere Bedürfnisse durch eine gesunde und tragfähige Wechselbeziehung mit Tieren, Pflanzen und dem gesamten Ökosystem stillen, wenn wir uns als Teil der Natur des Lebens erleben und verstehen. Als „Krone der Schöpfung“ jedenfalls haben wir ziemlich versagt. Im industriellen Zeitalter haben wir uns von einer ökologischen Sichtweise abgekoppelt und bewerten z.B. Unternehmen und deren Tätigkeit heute nur nach Zahlen und nicht (auch) durch den Einfluss, den diese durch ihre Tätigkeit auf die Umwelt ausüben.
Die weise Jane Fonda und ihre Einstellung
Jane Fonda brachte das bereits in den siebziger Jahren treffend auf den Punkt: „Wir gehen mit unserer Welt so um, als hätten wir noch eine zweite im Kofferraum!“ In der ZEIT für Unternehmer ist am 10.12. beispielsweise nachzulesen, dass erst 25% der Unternehmen ihre Emission schädlicher Abgase bilanzieren.
Im Unternehmenskontext ergibt sich hier ein breites Tätigkeitsfeld: Beispielsweise, wo immer möglich, Umstellung des Produktionsprozesses auf Kreislaufwirtschaft. Oder die Erstellung einer Gemeinwohlbilanz auch mit dem Ziel, Wege zu finden, auf denen das Leben gefördert werden kann.
Kennen Sie „Degrowth“?
Ein Stichwort, das in diesem Zusammenhang nicht fehlen darf, heißt „Degrowth“. Der Wirtschaftsanthropologe Jason Hickel (Buch: „Less is more“) sagt: „Wir können nicht endloses Wachstum auf einem endlichen Planeten haben“ und appelliert nachdrücklich dafür, mit der „Tyrannei des BIP“ (den Kennzahlen des Bruttoinlandsproduktes wird alles untergeordnet) und damit der Verherrlichung des Wachstums, zu brechen.
Vielmehr gehe es darum, das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der Menschen zu verbessern und gleichzeitig unseren ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Das ruft, so meine ich, nach einer Erweiterung des Wohlstandsbegriffes!
Damit eine, meiner Meinung nach völlig neue, Bedeutungsanreicherung des Begriffes Wohlstand, welche in Folge eine Erweiterung der Wahrnehmung ermöglicht: Es gibt nicht nur einen, den materiellen, Wohlstand! Bezieht man also diese weiteren Bedeutungen mit ein, geht es uns einerseits besser, als wir gemeinhin glauben, andererseits wird auch klar, dass es für den Erhalt dieses Wohlstandes einiger Aktivitäten bedarf. Und zunächst eines gewaltigen Umdenkens in der Gesellschaft, aber auch bei jedem Einzelnen.
Es ist alles viel komplexer und vor allem nich ausschließlich materiell
Dieser genannte Wohlstand muss genauso erarbeitet werden wie der materielle Wohlstand. Jeder kann sich fragen: Was tut mir gut, was erfüllt mich, trägt zu meiner Lebensfreude bei und spendet Energie? Und vielleicht auch noch weitergehen und fragen, was andere brauchen (könnten)? Unter den Antworten, die auf eine längerfristige Tragfähigkeit bzw. Bestand hinweisen, werden wohl eher seltener der neue Pulli oder irgendwelche Geschäfts-kontakte sein.
Übrigens: Die in der Geschichte zu Beginn dieses Briefes geschilderte Situation ist auch noch heute hochaktuell. Sie wiederholt sich tagtäglich: Millionen von Menschen sind auf der Flucht oder leben in Umständen, die denen von Maria und Josef durchaus entsprechen oder noch schlechter sind.
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Sie wären froh, wenn da öfter mal die Heiligen Drei Könige z.B. in Gestalt von Hilfsorganisationen vorbei kämen und ihnen helfen würden. Auf der anderen Seite stehen ebenfalls Millionen, aber deutlich weniger, die zumindest in relativer Sicherheit und teils großem materiellen Wohlstand leben. Ich meine, dass die letztgenannten die erstgenannten nicht vergessen sollten, es geht schließlich um ein menschenwürdiges Leben.
Und wie wir anlässlich der akuten Coronapandemie erkennen können, reicht es nicht, wenn nur die Menschen in den Industrieländern geimpft sind und nicht auch die in den weniger reichen Staaten. Das Virus ist reisefreudig und kümmert sich einen Kehricht um Grenzen. Also: Unterstützungsmöglichkeiten gibt es viele, packen wir’s an!
Wenn Sie mögen, lassen Sie sich doch durch diese Gedanken bei Ihrer persönlichen (Jahres-)Bilanz inspirieren. Im Rahmen von Beratung und Coaching stehen wir Ihnen dabei gerne zur Seite! Wir wünschen Ihnen jedenfalls, auch unter den aktuellen Bedingungen, ein schönes Weihnachts-fest, einen gelingenden Jahreswechsel und einen guten Start in das neue Jahr! Eine Perspektiverweiterung, wie vorgeschlagen, würde das Gelingen sicher unterstützen …
Viele Grüße
Thomas Zimmermann
und das Team von synthesis