Der Strohhalm

Der Strohhalm

Kennen Sie die orientalische Geschichte vom Strohhalm, unter dessen Last ein Esel zusammenbrach? Ein Esel, jenes Sinnbild des Lastentragens in schwierigem Gelände? Die Geschichte ist damit nur halb erzählt, denn zu ihr gehört auch das Wissen, dass der Esel vorher von seinem Herrn mit all dessen Hab und Gut beladen worden ist und dann – als der Mann „nur noch“ einen Strohhalm drauf packen wollte – zusammenbrach.

„Es war doch nur ein Strohhalm“, dachte der Mann, kaum Gewicht, nur ein Gramm. Aber es war eben „dieses eine berühmte Gramm“ zu viel, das den Esel in die Knie gehen ließ. Der Esel konnte nicht mehr.

Nun liegt es mir fern, Sie oder andere Menschen mit einem Lastesel zu vergleichen. Mir geht es um das Gefühl. Denn kennen Sie das nicht auch? Dieses Gefühl, dass „irgendwann alles zu viel wird“ und dass dann wirklich nur noch ein „Strohhalm“ aufgeladen werden muss, um zusammenzufallen? Und bisweilen so, dass es anderen noch nicht einmal auffällt?

Woher kommt die Kraft?

Doch dann passiert plötzlich folgendes: Sie erhalten einen Anruf positiven Inhalts oder jemand lobt Sie für ein gelungenes Werk oder Sie erhalten unerwartet einen Auftrag oder eine lange gesuchte Idee stellt sich plötzlich ein oder, oder, oder – und sofort ist wieder Licht am Horizont, die Kraft ist (zumindest teilweise) zurück, es geht Ihnen besser und Sie spüren Ihre Tatkraft. Von wegen „Strohhalm“ – jetzt geht es wieder richtig los!

Es lohnt sich, einmal die Frage zu stellen und darauf eine Antwort zu suchen: Wer oder was sind eigentlich diese Energiespender, die uns helfen, aus dem einen oder anderen Tal heraus und wieder auf die Höhen zu kommen?

Schaut man sich jetzt in der Weihnachtszeit um, bekommt man sofort eine Antwort: Es sind die vielen Dinge in Geschäften und Kaufhäusern, die uns verlockend erscheinen oder uns verlockend dargestellt werden. Sie sind unsere Retter, unsere Gutelaunebringer, die Frustreduzierer, wir müssen uns nur zum Kauf entschließen!

Wenn ich …

  • diesen schönen, großen Fernseher kaufe, geht es mir besser, denn ich habe einen erhöhten Filmgenuss;
  • dieses Schmuckstück kaufe und trage, bekomme ich reichlich Anerkennung und Bewunderung von anderen, und dann geht es mir gut;
  • zu meinem Smartphone, dem Laptop, dem stationären Computer noch ein Tablet kaufe mit unendlich vielen Funktionen, die ich vermutlich nie brauche, bin ich à jour und stets erreichbar;
  • mich mit teuren Lebensmitteln eindecke und ausgewählte Restaurants besuche, zeige ich, dass ich es mir leisten kann und gehöre zur oberen Gesellschaft;
  • u.v.m.

Seien wir ehrlich: Auch wir sind in unterschiedlicher Weise verführbar und auch nicht vor einer Flucht in die Güter gänzlich gefeit. Auch in uns ist der Glaube an der einen oder anderen Stelle, dass von Gütern Zufriedenheit, Entspannung, Kraft und Energie ausgeht, was auch zutreffen kann. Besteht eine innere Referenz, können Güter in uns etwas anstoßen. Beispiel: Der Hörgenuss einer Symphonie, wiedergegeben durch eine qualitativ hochwertige Musikanlage, kann durchaus zu einem Energieschub führen.

Dennoch sind wir gut beraten, uns ab und zu die Frage zu stellen: Was, wieviel und welche Güter, welche Umstände brauche ich wirklich? Bin ich mit Qualität nicht besser beraten als mit Quantität? Erhöht sich so unsere Lebensqualität, wie uns die Werbung oft weis machen möchte mit ihren Hinweisen, welche Produkte glücklich machen, wenn wir möglichst viel kaufen und besitzen? Kurzzeitig vielleicht, natürlich freuen sich viele Menschen, wenn sie ein vielleicht lange gewünschtes Produkt kaufen können, ich schließe mich da durchaus ein.

Aber langzeitig? Wie haltbar ist der erwartete Genuss, wie schnell verblasst er? Welche Verpflichtungen gehen wir bei der Anschaffung teurer Dinge oft ein und fragen uns dann: „Gehört bspw. das Haus, das Auto mir oder gehöre ich dem Haus bzw. dem Auto?“ Sind die aus dem Erwerb entstandenen Verpflichtungen vielleicht größer als der Genuss und Nutzen an der Sache? Entsteht gar eine Abhängigkeit: Ohne x/y kann ich nicht mehr leben?

Die Quellen der wirklichen Energiespender

Wenn wir uns die Frage nach Qualität und Haltbarkeit der Energiespender stellen, kommen rasch mehrere Erkenntnisse:

  • Nicht von allen Dingen/Sachen (von den wenigsten?) können wir dauerhaft als Energiespender oder Energiequelle profitieren, sie verlieren allzu schnell Kraft und Attraktivität.
    Der Kontakt zu anderen Menschen, Gespräche, Gedankenaustausch, gemeinsame Aktivitäten oder einfach zusammen zu sein, können hervorragende Energiespender sein (und sind es auch).
  • Wendet man das allseits bekannte Pareto-Prinzip (80:20 Regel) an, kommt man schnell darauf, dass es nur wenige Quellen sind, die nachhaltige Energie spenden, und zu ihnen nicht nur Äußerlichkeiten gehören. Qualität schlägt Quantität.
  • Somit ist man bei einer Energiequelle angelangt, die jedem immer zur Verfügung steht, aber aufgrund der Schnelligkeit unseres Lebens und den oft starken Belastungen verdeckt und oft zugeschüttet ist: Der eigenen Person und einer anderen Interpretation der (eigenen) Lebenswirklichkeit.

Im kommenden Jahr werde ich mit einer Führungskraft, die sich aktuell in einer persönlich schwierigen und energiearmen Arbeitsphase befindet, ein Coaching beginnen, dessen zentraler Punkt die Frage sein wird: „Ist das, was ich als Führungskraft mache, (noch) das, was mir Freude macht, mein Leben bereichert und Nutzen für die Organisation und die mir anvertrauten Menschen stiftet?“ Keiner von uns beiden weiß, wie das ganze ausgeht. Es kann sein, dass es ihm mit meiner Unterstützung gelingt, (wieder) seine Energiequellen für die Führungsarbeit zu finden, die ihn einmal getragen haben.

Es kann aber auch die Erkenntnis bei ihm eintreten, dass der letzte Karrieresprung einer zuviel war und er sich und sein Umfeld beschädigt, wenn er in dieser Position weiter macht. Und was passiert im letzteren Fall? Dann werden wir eine Lösung finden, die für ihn und das Unternehmen gut ist, eine Position, in der er seine dann wieder erwachte Energie einbringen kann und zu seiner Lebensqualität zurückfindet. Und wir werden eine Betrachtung erarbeiten, die dann diese berufliche Seitwärtsbewegung für ihn und sein persönliches Umfeld akzeptabel und vertretbar macht.

Auf den eigenen Kern und den Kern der Sache kommen, heißt, nicht den Botschaften der Werbung und anderen Einflüsse erliegen, wonach man nur dazu gehört, wenn man bestimmtes tut („Was? Sie gehen schon um 17.00 Uhr? Halbtagsjob?“) oder besitzt („Das Kleid hat sie schon letzten Sommer getragen!“ „Das Auto hat er auch schon 3 Jahre!“) oder in anderer Form einer unscharfen Norm genügt. Auf den Kern kommen heißt, zu schauen: Was brauche ich wirklich? Was bringt mir nachhaltig Freunde und Energie? Was bringt mir und den Menschen, mit denen ich verbunden bin, den größten bzw. den erwünschten Nutzen? Was sind in der Arbeit die Tätigkeiten, welche die größte Hebelwirkung haben? Und was fördert meine Lebensqualität und Lebenszufriedenheit im privaten Bereich? Was unterstützt meinen inneren Ausgleich und meine Zufriedenheit und gibt mir so die Kraft und Energie, im Alltag, egal ob beruflich oder im privaten, gut und effektiv zu wirken? Was erfüllt mich und meine Seele und spendet Lebensfreude? Ziehen wir nicht oft mehr Freude und Energie z.B. aus guten persönlichen Kontakten, zur und in der Familie ebenso wie zu Freunden oder bei Mitarbeiterinnen, als aus Dingen?

Ist es nicht der wahre Genuss, statt viel zu essen oder zu trinken, um den Körper am Laufen zu halten, lieber das zu sich zu nehmen, was die Sinne anspricht, was gut schmeckt, gesund ist und intensiv genossen werden kann? Der bekannte Fernsehkoch Horst Lichter unterscheidet sehr richtig zwischen Nahrungsmitteln, die unser System am laufen halten, und Lebensmitteln, die unser Leben und unsere Lebensqualität unterstützen.

Was brauche ich wirklich?

Muss ich so viel arbeiten und so viel Geld verdienen, um mich selbst spüren zu können bzw. um irgendwelchen tiefverwurzelten Glaubenssätzen zu ent-sprechen? Brauche ich so viele Dinge, um mich selbst zu definieren, oder schlummert in mir ein Kern, der funkeln könnte, wenn er denn nur hochgeholt würde? Was macht mich wirklich glücklich, zufrieden und damit leistungs-fähig und zum Gewinn auch für andere Menschen?

Die Konsequenz aus diesen Überlegungen könnte beispielsweise heißen:

  • Nicht jede Menge Freunde, für die ich zu wenig Zeit habe und mit denen der Kontakt deshalb eher oberflächlich und wenig inspirierend bleibt, sondern die richtigen, die mir Idee und Kraft für mein Leben geben und für die ich die Zeit habe, da zu sein, wenn ich das will oder es erforderlich ist;
  • nicht viele sportliche Aktivitäten, die ich nur an der Oberfläche beherrsche und die mir deshalb auch nur oberflächlich Nutzen stiften, sondern die verfolgen, welche gut für meine Gesundheit und Lebensfreude sind;
  • nicht jeden Film ansehen, weil man den gesehen haben muss oder jedes Buch lesen, weil es auf der Bestseller Liste steht, sondern die Filme und Bücher ansehen bzw. lesen, die mir mit hoher Wahrschein-lichkeit Energie und großen Nutzen stiften;
  • also nicht viel, sondern das richtige, und genießen, statt ungenießbar zu sein.

Zum Ende des Jahres hin, das von den meisten auch immer als eine Zäsur und als Gelegenheit zur Bilanz bzw. zum Abschluss betrachtet wird, lohnt es sich, die vergangenen 12 Monate und sich selbst darin einmal zu reflektieren: Was waren die persönlichen Highlights, was hat Freude gemacht und Energie gespendet? Wo habe ich zugesetzt, vielleicht sogar Energie verschwendet, und was habe ich daraus gelernt? Welche Energiequellen haben sich als sprudelnd und tragfähig erwiesen? Habe ich bzw. wie habe ich diese internen und externen Energiequellen gepflegt, so dass sie mir auch im nächsten Jahr nützlich sein können? Vielleicht haben Sie Lust, diese und andere Fragen bei einem winterlichen Spaziergang zu ventilieren oder im Kreis von Partnern oder Freunden zu besprechen. Ich wünsche Ihnen dabei nicht nur Spaß, sondern auch viele Erkenntnisse und Ideen für das nächste Jahr.

Herzliche Grüße, Ihnen und Ihren Nächsten ein schönes Weihnachtsfest und die besten Wünsche für das neue Jahr,

Ihr

Thomas Zimmermann
und das Team von synthesis