Ganz entspannt im Hier und Jetzt oder ganz verspannt im Dann und Dort?

Ganz entspannt im Hier und Jetzt oder ganz verspannt im Dann und Dort?

Ein Fischer liegt nach erfolgreichem Fischfang im Schatten eines Segels in seinem Boot am Strand und döst vor sich hin. Die Sonne scheint, es ist sehr warm und der Mann scheint mit sich und der Welt zufrieden. Ein vorbei-kommender Tourist sieht diese Idylle und zückt den Fotoapparat. Aufgeweckt vom Klicken der Kamera wendet sich der Fischer zum Fotografen, worauf der ihn anspricht:

„Was machen Sie denn da?“

„Ich ruhe mich aus von meinem Fischzug.“

„Aber es ist doch erst Vormittag! Sie könnten doch nochmal hinausfahren und fischen. Dann hätten Sie einen doppelt so großen Fang!“

„Und dann?“

„Wenn Sie das eine Weile machen, würden Sie doppelt soviel Geld verdienen und könnten sich ein zweites Boot kaufen, Leute einstellen und noch mehr Fische fangen und verkaufen! Ich bin Manager, ich kenne mich aus!“

Etwas verständnislos schaut der Fischer den Touristen an, aber der kommt jetzt erst richtig in Fahrt: „Mit der Zeit könnten Sie eine ganze Fischfangflotte aufbauen, einen Helikopter anschaffen und mit dem Ihre Flotte von oben zu den besten Fischgründen steuern. Außerdem könnten Sie eine Fabrik zur Fischverarbeitung errichten, ein eigenes Vertriebsnetz aufbauen und wären bald ein sehr reicher Mann mit großer Villa!“

„Und dann?“ fragt der zunehmend verwirrte Fischer.

„Dann“ trumpft der Tourist auf, „können Sie sich ruhig an den Strand legen und den Wellen zusehen und entspannen!“

„Aber das mache ich doch schon jetzt, ich wurde nur durch Ihr Fotografieren gestört!“ antwortet der Fischer.

Diese Anekdote, erzählt von Heinrich Böll und hier nur kurz zusammenge-fasst, ist sicher dem einen oder der anderen bekannt. Der Fischer scheint in dieser Geschichte wunschlos glücklich (und wird es vermutlich auch sein) und ganz entspannt im Hier und Jetzt. Er braucht all die scheinbar schönen Dinge, die der Manager ihm schmackhaft machen will, nicht für sein Leben. Der Manager hingegen kann sich kaum auf die Situation einlassen und ist im Dann und Dort in seiner Traum- oder Wunschsituation.

Gerade Weihnachten ist hierzulande die hohe Zeit des Wünschens, besonders, aber nicht nur, für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Auch im Jahreslauf haben wir immer wieder Wünsche: nach Geld, nach Erfolg, nach materiellen Gütern, nach bestimmten Beziehungsqualitäten, auch nach einem zumindest partiell anderem Leben oder natürlich auch nach Gesundheit. Wünsche erfüllen viele Zwecke: Man kann vom Gewünschten träumen und sich vorstellen, wie sich das eigene Leben (positiv) nach Erfüllung des Wunsches darstellt, wie man sich fühlt, wenn man das Traumauto fährt, wie man bewundert wird, wenn man die gewünschte Karriere hinlegt oder das Umsatzziel erreicht, wie hervorragend es einem erst einmal gehen wird, wenn man das Urlaubstraumziel erreicht hat oder mit der Traumperson eine Verbindung eingegangen ist. Wünsche können motivieren, die Realität aktiv zu verändern oder einen für eine vielleicht kurze Zeit aus der nicht so schön empfundenen Realität in eine zumindest in der Vorstellung bessere entführen („wenn ich mal im Lotto gewinne, dann …“). Sie lassen einen träumen und machen dann zumindest vorübergehend gute Laune. Man erwartet nicht von allen Wünschen die Realisierung, oft ist einfach der Wunsch und der Gedanke an ihn als solcher schön. Wünsche beschäftigen sich in aller Regel mit etwas, was mir im Augenblick nicht zur Verfügung steht oder zugänglich ist, ich aber gerne hätte. Und manchmal gelten Wünsche auch dem Erhalt einer Situation, z.B. dass ich gesund bleibe. Wünsche ich anderen etwas, so geht es im positiven Fall um Dinge oder Zustände, von denen ich glaube, dass die andere Person zumindest derzeit nicht oder nicht in ausreichendem darüber Maße verfügt oder die sie nicht verlieren soll, weil sie ihr guttun oder guttun würden. Diese Wünsche sind oft auch mitfühlend und signalisieren, dass sich der oder die Wünschende mit dem Gegenüber und dessen Situation (z.B. „Ich wünsche Ihnen gute Besserung!“) beschäftigt hat und ihm etwas gönnt. Allerdings gibt es, meist in der Verärgerung, auch Wünsche, die nicht positiv sind („Dem wünsche ich die Pest an den Hals!“).

Wünsche haben und machen also durchaus Sinn und können das Leben bereichern. Hier und jetzt geht es aber um eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten im Kontext Wunsch. Grenzen wir deshalb das Thema ein: Versteht man Wünsche so, dass es meist um etwas geht, was im Moment nicht da ist, aber kommen soll (und darum soll es in diesem Brief gehen) und ein Wunsch dafür herhalten muss, dass man nicht selbst aktiv zu werden braucht, so könnte man „Wünschen“ auch als eine Fluchtbewegung bezeichnen. Wie das? In der oben erzählten Geschichte wird dies ein wenig deutlich: Während der Fischer mit sich und der Welt zufrieden ist und in sich ruht, kann sich der Manager auf diese Situation nicht einlassen und meint entsprechend seinem Lebensbild, dass persönliches Glück erst mit materiellen Dingen, also durch eine entsprechende Veränderung der Situation, zu erreichen ist. Wenn ich dies oder jenes habe oder sich verändert, dann werde ich glücklich sein. Das enthebt einen dann der Aufgabe, sich mit den Vorzügen und nicht nur den vermuteten oder gefühlten Nachteilen der aktuellen persönlichen Situation auseinanderzusetzen. Statt sich also mit der aktuellen Situation zu inhaltlich beschäftigen und Handlungsoptionen zu entwickeln, investiere ich meine Energie lieber in die Wunschsituation, die noch nicht ist und vielleicht auch nie kommt: Wenn ich das hätte/wäre usw., dann … aber leider ist/bin ich das ja nicht. Bei Nicht-Akzeptanz der Situation kann man sich dann wenigstens als „Opfer“ bezeichnen.

Zu Weihnachten wünschen sich viele ein „besinnliches Fest“ – kaum für sich selbst (das eigene Interesse ist da meist erstaunlicherweise nicht so groß), meist nur den anderen. Wie das mit der Besinnlichkeit bei dem ständig zunehmen-den Weihnachtstrubel funktionieren soll, bleibt dahingestellt. Denn Besinnung auf sich selbst, also den Sinn in sich selbst und dem eigenen Leben zu erkennen und zu reflektieren, hat auch so seine Nachteile: Man könnte die tatsächliche Lebenssituation und die Notwendigkeit, sich mit ihr auseinander-zusetzen, erkennen und dabei vielleicht feststellen, was schon alles da ist und wie (wenig) sinnvoll oder sinnstiftend der eine oder andere Wunsch und seine Erfüllung ist. Wie die Philosophin Rebekka Reinhard meine auch ich, dass wir schon alles haben, was wir brauchen, wir sehen es nur nicht. Weil es vielleicht aktuell schwer ist oder wir uns nicht mit unserer aktuellen Situation tiefergehend beschäftigen wollen (oder vielleicht auch können), fliehen wir manchmal aus ihr hinein in Wünsche, anstatt die Lebenssituation anzu-nehmen, hineinzugehen, zu spüren, was da ist und was nicht und sie Stück für Stück zu verstehen. Nicht weg sein wollen in Vergangenheit oder Zukunft, sondern da sein, präsent, spüren, den Selbstkontakt verbessern. Beispiele:

  • Wir kaufen uns Armbänder, die Körpersignale messen und diese an das Smartphone oder die iWatch melden, welche uns dann mitteilen, wie gesund oder krank wir sind – anstatt auf den Körper zu hören.
  • Wir erwerben Sachen in der Annahme, dass sie unserem Leben (mehr) Sinn und uns Zufriedenheit gäben und verwechseln dabei Sinn mit Unsinn.
  • Wir wünschen uns eine andere Arbeitssituation, weil wir glauben, dass wir erst in einem veränderten Kontext unsere ganzen „PS auf die Straße“ bringen könnten und vermeiden damit, uns mit der aktuellen Situation, unserer Rolle darin und unseren vielleicht sogar das System erhaltenden Arbeits- und Verhaltensweise zu beschäftigen.

Das Paradoxe: Je mehr wir vor der Situation oder uns selbst z.B. in Wünsche fliehen, desto besser bleiben uns genau diese Situationen und Probleme erhalten: Nichts im Leben ist uns so treu wie unsere unbearbeiteten Probleme. Menschen, die z.B. einen Wechsel des Arbeitgebers erwägen und zu uns zum Coaching kommen, um sich über die mit einem Wechsel verbundenen Möglichkeiten und Risiken klar zu werden, rate ich immer, vor ihrer end-gültigen Entscheidung genau die tieferen persönlichen Wechselgründe (und nicht nur die Oberfläche wie z.B. Geld) für sich herauszuarbeiten: Sind es ungelöste Probleme oder vielleicht nicht bearbeitete Konflikte am Arbeitsplatz, die einen wegtreiben, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass sich auch im neuen Organisationskontext für den Betreffenden rasch ähnliche Situationen einstellen – es sei denn, die Person beschäftigt sich (endlich) mit ihrer Rolle, ihren Anteilen an der Situation und zieht Konse-quenzen daraus. Das Gras auf der anderen Seite des Zaunes ist nun mal nicht grüner als auf dieser Seite! Vielleicht hat sich der Fischer auch bereits die Gedanken des Managers gemacht und ist dann für sich zu dem Schluss gekommen, dass ein Leben, wie es der Manager propagiert, für ihn nichts ist, weil er sich da nicht wiederfindet, und deshalb für ihn der Preis zu hoch sei.

Bevor man sich dies oder jenes anders wünscht, ist man deshalb meiner Meinung nach gut beraten, sich entweder mit dem Motiv, das hinter dem Wunsch ist, zu beschäftigen oder/und zumindest hie und da auf die anlass-gebende Situation tiefer einzulassen: Was bedeutet diese Lebenssituation für mich? Wie formt mich diese Situation? Wie kann ich diese Situation formen? Was habe ich zu dieser Situation beigetragen, und was andere? Was kann ich daraus für mich und/oder auch meine Umwelt lernen? Das Leben hält, und das wissen wir alle, nun mal nicht nur ideale Situationen für uns bereit. Und das ist gut so, vorausgesetzt, man versteht tatsächliche oder vermeintliche Störungen auch als Lernanlass und nun mal zum Leben gehörend. Wäre immer alles glatt (wie langweilig!), gäbe es kaum Gründe für die persönliche Weiterentwicklung. Je besser man „in sich zu Hause“ ist, desto besser kommt man mit den Aufgaben und Herausforderungen zurecht. Schwierige Situationen helfen, das eigene Zuhause, also sich selbst, zu erkunden. Meckern und Klagen sorgt oft dafür, dass man sich nicht auf eine reale Situation einlassen muss, sondern in Wunschbilder flüchten kann. Wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass gelegentliches Schimpfen auch reinigend wirken kann: Schimpfen ist der „Stuhlgang der Seele“, habe ich mal gelernt. Und danach folgt das Anpacken.

Ich möchte Ihnen das Wünschen nun wirklich nicht vermiesen! Manchmal ist es sehr hilfreich, sich in andere Situationen und Lebensumstände zu beamen, um wieder Energie zu schöpfen und Wohlbefinden herzustellen. Auch der Fischer in unserer Geschichte hat mit Sicherheit seine Wünsche, z.B. den, auch morgen wieder einen guten Fang hereinzuholen. Worum es mir in diesem Brief geht ist, darauf aufmerksam zu machen, über das Wünschen und Träumen nicht der eigenen Realität und vor allem der Auseinandersetzung mit ihr zu entfliehen. Vieles ist bei genauerem Betrachten vielleicht gar nicht so schlecht und veränderungsbedürftig, wie ich im Moment denke. Und vieles kann ich bei genauer Betrachtung der Situation auch lernen und dann mein Leben nachhaltiger positiv verändern, als wenn ich es beim Wünschen belasse!

Und jetzt wünsche ich Ihnen auch noch was: Ein für Sie und Ihre Lieben schönes Weihnachtsfest, Gesundheit und auch Erfolg im nächsten Jahr sowie eine inspirierende Zufriedenheit!

Herzliche Grüße

Ihr Thomas Zimmermann

und das Team von synthesis

Vor längerem sah ich an einem Sonntagmorgen im Hotel eine Dame im Fernsehen einen Vortrag halten. Statt zum Frühstück zu gehen, saß ich fast eine Stunde auf dem Bett, fasziniert ihren Worten lauschend. In der Folgewoche kaufte ich sofort ihr erstes Buch, und das empfehle ich Ihnen heute als Weihnachtslektüre:

Rebekka Reinhard: „Die Sinn-Diät. Warum wir schon alles haben, was wir brauchen. Philosophische Rezepte für ein erfülltes Leben“, München 2011