Betrifft: Unser Entwicklungsland

Betrifft: Unser Entwicklungsland

Unser Land, unser Deutschland, ist ein Entwicklungsland.

„Nein, nein“ werden Sie sagen. Der Export brummt, das Wachstum stimmt, die Arbeitslosen werden immer weniger und außerdem sind wir in der Lage, unsere Bahnhöfe für viel, viel Geld unter die Erde zu buddeln. So ein Land steht an der Spitze der Welt und braucht weder den Rettungsschirm noch  Entwicklungshilfe.

Vielleicht doch? Denn ich meine etwas anderes: Ich meine die Qualität unserer Kontaktbeziehungen.

Sicher, die Krise hat uns in Familien und die Menschen in Unternehmen enger zusammenrücken lassen, und lang gepflegte Dissonanzen zwischen Interessengruppen spielten vorübergehend keine Rolle mehr. Auch und gerade jetzt zur Weihnachtszeit pflegen wir sie wieder unterm Tannenbaum und auf Betriebsfeiern: Unsere Beziehungen.

Alles bestens also? Schauen wir doch einmal kurz auf andere Länder. Zum Beispiel auf Griechenland.

Den Griechen geht es besser

„Den Griechen geht es besser“, titelte im Sommer die FAS, als Griechenland gerade mit seinen inneren Unruhen wegen der drastischen Sparmaßnahmen am Rande des Abgrunds stand. Denn die Griechen haben etwas, so meinte die FAS, was bei uns weitgehend verloren gegangen ist: Die solidarischen Beziehungen in Familie und Nachbarschaft, die sich u.a. in gegenseitiger Hilfe und Unterstützung ausdrücken. „Herzenskälte, Einsamkeit, der Triumph des Egoismus, Armut an Zeit sowie Stress und Depressionen nehmen seit Jahren zu. Komfortdenken, Nutzenkalkül und Ego-Denken (Egonomie statt Ökonomie) beherrschen den sozialen Raum“, schreibt Helmut Saiger in einem Essay in „Change X“. Und der bekannte Trendforscher Matthias Horx meint: „Der Megatrend Individualisierung ist so stark geworden, dass er die gesellschaftlichen Gruppen geradezu atomisiert.“ Dabei wissen wir doch aus der Glücksforschung, dass soziale Kontakte, Familie und Freunde zu den wichtigsten Glücksfaktoren gehören. Ein Preis für unseren Wohlstand war/ist offensichtlich eine reduzierte Qualität der sozialen Beziehungen, mit ausgelöst auch durch die starke Wettbewerbsorientierung. Wo hier bei uns stets auf eine (meist staatliche) verantwortliche Stelle für alles, sei es die Pflege alter Menschen, die Erziehung der Kinder, die Hilfe für Bedürftige, geschaut und nachgefragt wird, werden diese Aufgaben in anderen Ländern meist von den Unterstützungsnetzwerken der Familien und Clans organisiert. So ist es nicht besonders verwunderlich, dass bei uns der Zufriedenheitsgrad der Menschen nicht wesentlich höher ist als in Entwicklungsländern – wo das „wir“ besser funktioniert.

Nicht nur die Krise hat gezeigt, dass wir es anders und besser können. Dies bestätigt mit der Akribie des Wissenschaftlers und Forschers auch der Medizinprofessor und Neurobiologe Joachim Bauer in seinem wegweisenden Werk „Prinzip Menschlichkeit – Warum wir von Natur aus kooperieren“. Seine Ausführungen machen deutlich, dass Menschen sich dort mehr engagieren, wo sie sich wohler fühlen. Und Wohlfühlen hat sehr viel mit Kontaktqualität zu tun. Weshalb also nicht die gewonnen Erkenntnisse für die Optimierung der Kontaktqualität in unseren Organisationen nutzen?

Die Kontaktqualität ist basal

Die Mitarbeiter wollen ihre Kontaktbedürfnisse auch im Unternehmen als dem Ort, an dem sie einen Großteil ihrer Zeit verbringen, befriedigen und achten daher auf Kontaktqualität. Ein interner leistungs- und ergebnisfördernder Wettbewerb beispielsweise, der durchaus sinnvoll sein kann, wird künftig eine Kontaktqualität zwischen Führungskräften und Mitarbeitern bzw. zwischen Kollegen erfordern, die durchaus vergleicht, aber weniger ausgrenzt/ diskriminiert und stattdessen Persönlichkeiten und den Wunsch nach sozialen Kontakten verstärkt berücksichtigt. Die Anreize über Geld, die ja darauf setzen, dass Geld für die Mitarbeiter ein erstrebenswerter Attraktor ist, werden für viele weniger wichtig, und das Streben nach materiellem Wohlstand wird zurückgehen. Der Mitarbeiter erlebt in der Gesellschaft nämlich zunehmend häufiger, dass, egal wieviel er verdient, bestimmte Dinge (z.B. Betreuung von Kindern oder gebrechlichen Eltern) für ihn mit Geld allein nicht regel- oder erreichbar sind, wohl aber über soziale Netzwerke. Nicht zuletzt zeigen beispielsweise die steigenden Kosten für Krankheitsvorsorge und anderes ein nicht zu gewinnendes Hase-und-Igel-Rennen, das vor allem die mittleren Einkommensschichten auslaugt. Damit sinkt die Attraktion von Geld und die von Kontakt und Kontaktqualität wächst. Interessanterweise lassen sich beispielsweise zwar erst langsam, aber immer mehr junge, hochqualifizierte Männer darauf ein, in Elternzeit zu gehen und dafür auch den nächsten Karriereschritt vielleicht zu verschieben oder gar zu verpassen. Zeit haben für Familie und Kinder hat für den einen oder anderen mehr Bedeutung als Statussymbole und schnelle Karriere, wissend, dass Materielles meist schneller verloren gehen kann als soziale Beziehungen.

Wovon ist die Rede, wenn wir von Kontaktqualität sprechen? In Unternehmen/ Organisationen begegnen sich Menschen unterschiedlicher Hierarchien in immer wieder wechselnden Kontexten. Alle Beteiligten verfolgen ihre Interessen, und so soll es auch sein. Bei der Kontaktqualität stellt sich nun die Frage, wie man – ungeachtet unterschiedlichen Standes und Interessen – einander begegnet: Mit einem angemessenen Grad an Offenheit und/oder Ehrlichkeit, zumindest Aufgeschlossenheit, mit Respekt und Wertschätzung sowie Fairness gegenüber dem anderen, dem ehrlichen und nicht wertenden Interesse an der anderen Person, der Bereitschaft zuzuhören und dem Interesse an einer gemeinsamen Lösung, die soweit als möglich die Anliegen der Beteiligten berücksichtigt. Die Qualität von Kontakten wird gesteigert durch Verlässlichkeit z.B. im Handeln und Klarheit in der Rede.

Auch Kontaktqualität ist ein Erfolgsfaktor

Und was haben die Beteiligten, insbesondere die Unternehmen, von einer guten Kontaktqualität? Durch klare Rede und wohlwollendem Verhalten werden beispielsweise Irritationen und scheinbare oder tatsächliche Missverständnisse reduziert und das Vertrauen untereinander gefördert. Die Zufriedenheit am Arbeitsplatz steigt, und damit Quantität und Qualität der Leistung. Menschen, die sich am Arbeitsplatz wohl fühlen, werden auch weniger krank. Und noch besser: Mitarbeiter verlassen meist nur ungern Unternehmen, in denen sie sich wohl fühlen (wozu natürlich auch noch eine Reihe anderer Faktoren beitragen!) und sind resistenter gegenüber Abwerbungen – ein wichtiger Faktor für jedes Unternehmen angesichts der demographischen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Und noch viel besser: Qualitativ gute oder sehr gute Kontakte sind in Krisenfällen belastbar, die Handlungsbereitschaft der MitarbeiterInnen ist größer und der Ruf nach Regelung, Ausgleich u.ä. fast immer leiser als in Organisationskontexten, in denen die Kontaktqualität nicht so gut ist. Zusätzlich: Die Energie zur Aufrechterhaltung des „Unternehmenstheaters“ wird reduziert und fließt stattdessen in die Realisierung der Arbeits- und Organisationsziele. Häufig beobachte ich in Unternehmen weitgehend sinnfreie Rituale und Gewohnheiten (= Unternehmenstheater), die sich bei guter Kontaktqualität und direkter Kommunikation erübrigen würden.

Soweit der Logikteil. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum es dann nicht oder nur so selten gemacht wird, stößt man auf viele Gründe:

         Kontaktqualität verlangt Investitionen in den Kontakt, z.B. durch Interesse am anderen oder Zuhören, und das kostet zunächst Zeit und beeinträchtigt auch die eigene Bequemlichkeit;

         Manche wollen sich auf andere auch nicht einlassen (wobei hier noch lange nicht von engeren persönlichen Beziehungen die Rede ist, vielmehr geht es um offen sein für den anderen), haben Angst vor Zurückweisung oder Ausnutzung;

         Die Dosierung von Nähe und Distanz wird nicht beherrscht;

         Die Sorge vor der Blamage (Wie geht der denn mit seinen Leuten um? Nur die Harten kommen in den Garten!) spielt eine Rolle;

         Persönliche Glaubenssätze (mit mir will ja sowieso keiner u.a.) hindern den einen oder anderen;

         Man könnte sich blamieren und als Weichei abgestempelt werden;

         Oder die höhere(n) Führungseben(en) sind an guten Kontaktqualitäten nicht interessiert, da sie in deren Augen das Machtgefüge destabilisieren können und sie glauben, dass ein geschürter und möglichst diskriminierender Wettbewerb höhere Ergebnisse bringt.

Eine gute Kontaktqualität geht nicht in die Richtung „Wir lieben uns doch alle“, sondern hat zum Ziel, die durch unterschiedliche Positionen und Ansichten bedingten Reibungspotenziale auf das inhaltlich relevante zu reduzieren. Dazu gehört auch das Setzen von Grenzen, das Formulieren von Anforderungen u.v.m, und das alles nicht weichgespült, sondern mit Klarheit, Wertschätzung und Respekt. Immer wieder beobachten wir Führungskräfte, die sich lieber wegducken anstatt klar mit ihren MitarbeiterInnen zu kommunizieren. Begrifflichkeiten wie „wohlverdienter Urlaub oder Feier-abend“ für Personen, deren mangelnder Leistungswille allen bekannt ist, deuten in diese Richtung. Und die oberflächliche Freundlichkeit der Weihnachtsfeiern und Betriebsausflüge machen diese für die Beteiligten oft zur Qual. Kommt es zu Krisensituationen, in denen ohne langes Reden das Engagement aller gefragt ist, erwarten dann die so Behandelten, dass auch weiter gesülzt wird.

Gute, belastbare Kontaktqualitäten im Unternehmen zu erzeugen heißt also für die Führungskräfte (an die sich dieser Brief ja wendet),

         Sich für die Menschen im Verantwortungsbereich interessieren, sich mit ihnen als Personen zu beschäftigen;

         Sie wirklich partnerschaftlich zu behandeln;

         Ihre Eigenheiten und Besonderheiten akzeptieren, soweit sie nicht die Abläufe beeinträchtigen;

         Eine klare Grenze zwischen Nähe und Distanz aufzubauen;

         Klare und nachvollziehbare Anweisungen und Informationen zu geben

         Im gesamten Umgang stets respektvoll und wertschätzend zu sein, vor allem in Konfliktsituationen,

         Zuverlässig sein in Aus- und Zusagen;

         Gemachte Fehler eingestehen und sich ggf. entschuldigen.

Damit wird aus dem Miteinander im Unternehmen zwar immer noch kein „Fest der Liebe“, wohl aber ein Ort, wo Menschen mit großem Engagement allen Widrigkeiten der Märkte gemeinsam trotzen können – ohne jegliche Mehrkosten (sagt zufrieden an dieser Stelle der Schwabe).

Ich wünsche nun Ihnen und Ihrer Familie alles Gute, Gesundheit und Erfolg im nächsten Jahr und stets eine glückliche Hand in Steuerung und Führung. Ich danke, dass Sie die Briefe gelesen haben und hoffe, dass sich für Sie die eine oder andere Anregung ergeben hat – das würde mich sehr freuen. Auch den MitarbeiterInnen und Ihrem Unternehmen nur das Beste für 2011!

Herzliche Grüße

 Ihr

Thomas Zimmermann

Noch ein Hinweis in eigener Sache: Soeben ist das Buch „Erfolgsfaktor Kundenorientierung“ (Borsch/Friedrich/Haustein Hrsg.) im Bank Verlag Köln erschienen, in dem ich einen Beitrag veröffentlichen durfte. Viel Spaß beim Lesen!