Wie kann so was passieren, was nun passiert ist und was nie hätte passieren dürfen (meinen die vielleicht eher Ängstlichen), was eigentlich nie hätte passieren können (dachten die etwas Mutigen), was aber, und da sind sich dann alle einig, eine Katastrophe darstellt, die ihr gesamtes Ausmaß für die ganze deutsche Wirtschaft und nicht nur VW erst in den nächsten Wochen und Monaten zeigen wird: Der Betrugsskandal bei VW. In den Medien hat auch gleich die Suche nach dem oder den Schuldigen begonnen, erste Prominente wie Martin Winterkorn hat es öffentlichkeitswirksam erwischt, in den Reihen dahinter gab es bereits, weniger öffentlichkeitswirksam, zahlreiche Beurlaubungen und auch die ersten Ingenieure haben ihre Schuld eingestanden (Tagesschau vom 04.10.2015).
Die anderen (also der Wettbewerb) beteuern ebenso öffentlichkeitswirksam, dass bei ihnen ein solcher Betrug gewiss nicht vorkomme, und der Entwickler und Hersteller der „Schummel-software“ schweigt bislang. Wie immer bei Skandalen versucht man, das Problem und die Empörung an einzelnen Personen festzumachen. Ich kann mir sogar vorstellen, dass man „ganz oben“ gar nicht wusste oder, eher wahrscheinlich im System VW, gar nicht wissen wollte, wie die fantastischen Abgaswerte bei den Dieselmotoren zustande kommen. Das ist wahrlich keine Entschuldigung, denn auf dieser Ebene liegt eine Menge Verantwortung, dazu später mehr. Das Ergebnis war eben wichtiger als die Wahrheit dahinter, signalisierte es doch die gewünschte Zielerreichung.
Ich möchte heute Ihres und mein Augenmerk auf eine andere Perspektive des Geschehens und zunächst erst einmal weg von einzelnen Personen lenken, nämlich auf die Frage: Wie kann so etwas in einer Organisation passieren?
In einer Organisation wie VW, in der tausende technisch sehr versierte Ingenieure und Wissenschaftler arbeiten, die schon vor Jahren erkannt haben, dass es sich hier um eindeutigen Betrug handelt – aber nichts (so scheint es) oder zu wenig dagegen unternommen haben? Und wenn Sie etwas dagegen unternommen und auf die Gefahren aufmerksam gemacht haben (was sehr wahrscheinlich ist), woran sind sie dann gescheitert? Welche Dynamik, welche Kultur braucht es in einer Organisation, dass niemand oder nur wenige sich trauen, aktiv etwas zu unternehmen bzw. die Wissenden sich vielleicht selbst zensieren, auch weil sie den Eindruck haben, dass man „da nichts machen könne“? Was dann in der Konsequenz zu einer ernsthaften Bedrohung für das ganze Unternehmen, zu dessen Existenzgefährdung bis hin zur Liquidation (was aber bei VW nicht passieren wird – „too big to fail“ haben wir schließlich bei der Bankenkrise gelernt), mindestens aber zum Verlust von tausenden von Arbeitsplätzen im Unternehmen wie auch bei Zulieferern (was mit hoher Wahrscheinlichkeit passieren wird) führen kann bzw. wird? Noch gar nicht betrachtet: Die Gefahren für eine ganze Region, deren wirtschaft-liches und steuerliches Gleichgewicht vom Wohlergehen des VW-Konzerns abhängt. Nicht zu vergessen der Schaden für den Ruf der deutschen Wirtschaft in der Welt und das Vertrauen in sie, womit auch andere Branchen und nicht nur der Automobilbau betroffen sind. Wieder einmal wird – diesmal auf schmerzhafte Weise – deutlich, wie alles und alle zusammenhängen und keiner etwas tun kann, ohne auch die Kreise des anderen zu berühren. Waren sich die Verantwortlichen, welche die Entscheidung für den Einsatz der „Schummelsoftware“ getroffen haben, dieser Dimensionen bewusst? Vermutlich eher nicht, ihr Denken war anders, monostrukturell allein auf die Bewältigung ihrer aktuellen Situation ausgerichtet, und kritische Einwände wurden verdrängt. Hinzu kommt eine innerorganisatorische Dynamik, die ab einem gewissen Zeitpunkt vermutlich bei vielen zu einem Gefühl des „no return“ führt bzw. führte.
Versuchen wir mal, einen Blick auf diese innerorganisatorische Gegebenheiten zu werfen: Wir haben es bei VW mit einigen hunderttausend Menschen zu tun, im Bereich der Entwicklung immer noch mit einigen Tausend, die zusammen mit ihrem individuellen und aus Lebenserfahrungen gespeisten Verhalten die Kultur in den jeweiligen Bereichen gestalten. Was dort passiert, wird aber nicht nur vom Verhalten dieser Menschen beeinflusst, sondern auch von den Führungskräften, dazu den geschriebenen und ungeschriebenen Verhaltensregeln („do’s and don’ts“) und den Unternehmensvorgaben und nicht zuletzt von der Außenwelt, als da sind die Politik und ihre „politischen Vorgaben“, die Märkte und die Wünsche der Kunden und vieles mehr. Bereits hier lässt sich erkennen, wie schwer und keineswegs ausreichend eine Ursachenforschung ist, die nur auf das Erkennen bestimmter Personen und deren Entscheidungen als alleinige Verursacher ausgerichtet ist.
Dringt man etwas tiefer in die Organisation ein, wird z.B. berichtet, dass sowohl Herr Piech wie auch Herr Winterkorn „ein System der Angst“ betrieben haben (Spiegel 40/2015). Personen, welche die beiden bei Test-fahrten oder Fahrzeugpräsentationen erlebt haben, bestätigen mir das im Wesentlichen. Um Angst zu verbreiten, muss aber auch auf der anderen Seite die Bereitschaft vorhanden sein, dieses „Angstangebot“ anzunehmen. Eine solche Bereitschaft entsteht z.B. dann, wenn man um seinen Arbeitsplatz fürchten muss (und keine Alternativen sieht), wenn man Mobbing bei sich selbst erlebt oder bei anderen beobachtet, wenn man übermäßig viel Verant-wortung aufgelastet bekommt usw. Auch Gruppengesetze können Angst machen und einschränken: „Nichts verlässt die Wache“, heißt es z.B. bei der Feuerwehr, wir regeln alles unter uns. Da wird ein Einzelner kaum Bedenken oder andere Meinungen an höherer Stelle oder woanders (außer vielleicht zu Hause) äußern. Auch die alte Regel, bekannt aus dem Römischen Reich, wonach der Überbringer schlechter Nachrichten mit einem deutlich verkürzten Leben zu rechnen hatte, spielt oft eine Rolle. Von Hartmut Mehdorn wird aus seiner Zeit als Bahnchef berichtet, dass er auf seinem Schreibtisch ein Schild gehabt habe auf dem stand: Bringen Sie mir keine Probleme, bringen Sie mir Lösungen. Vielleicht hat er auch deshalb viele reale Probleme der Bahn nicht mitbekommen …. Die Kulturdevise lautet häufig: Wir haben keine Probleme, wir haben lediglich (schnell) lösbare Herausforder-ungen. „Irgendwann macht man was, ohne die wirtschaftlichen oder recht-lichen Folgen mit der gebotenen Tiefe abzuschätzen, weil man aufgrund der Umfeldbedingungen (Zeitdruck, Erwartungen, Vorgaben etc.) keine andere Möglichkeit mehr sieht“, sagte mir eine Führungskraft aus einem Unter-nehmen, das ich berate. Aber auch die selbst auferlegten Gebote des einzelnen, gespeist aus der Lebenserfahrung oder der kulturellen Erfahrung aus der Organisation, spielen eine Rolle: „Das kann man (also ich) doch nicht machen/sagen“, richtet die Person sich selbst und unterlässt weitergehende wichtige Schritte. Auch das Verhalten der Führungskräfte (die als Menschen und Mitglieder der Organisation weitgehend gleichen oder ähnlichen Bedingungen wie die Mitarbeiter unterliegen) spielt eine gewaltige Rolle, ebenso wie und mit welchen Informationen die Führungsebenen versorgt werden. Ist nun in diesen kulturellen Merkmalen und Verhalten die Ursache für die aktuelle Situation bei VW zu suchen?
Auch, aber nicht nur: Es kommen auch Routinen und Erfolge hinzu, die wiederum eine gefährliche Risikobereitschaft fördern. Wenn etwas entgegen Befürchtungen gelungen ist, heißt es nicht selten: „Sehen Sie, es geht doch!“, und mit dieser Äußerung wird die Person, welche die Bedenken geäußert hat, diskreditiert oder lächerlich gemacht. Natürlich sind Bedenken manchmal wirklich wenig substantiell, und wer hat schon Freude an Bedenkenträgern, hier sind aber Bedenken moralischer bzw. rechtlicher Kategorie gemeint. Wir kennen es von uns selbst: Wenn wir häufig Geschwindigkeitsvorgaben über-schreiten und dabei nicht geblitzt werden, wächst auch bei uns die Risiko-bereitschaft hinsichtlich schnellen Fahrens. Eine weitere Rolle spielen Prozesse, die oft so komplex organisiert sind und in der Organisation auch eine Eigendynamik entwickelt haben, dass Abweichungen oder Kritik entweder nicht möglich oder von einer so großen Tragweite sind, dass man sie trotz besseren Wissens unterlässt. Es soll Firmen (z.B. in Japan) geben, bei denen ein Arbeiter am Band die Möglichkeit hat, den Produktionsprozess sofort zu stoppen, wenn er Qualitätsmängel erkennt. Nur – wer möchte für das Anhalten eines Bandes und die damit verbundenen Produktionsausfälle die Verantwortung übernehmen? Und wenn das ein Fehlalarm war? Da halte ich doch lieber den Mund … oder?
Nicht zu vergessen die Interaktion der Organisation mit den relevanten Umwelten wie Politik, Gesetzgebung, Gesellschaft, Kunden, Wettbewerb usw. Jede dieser Umwelten ist selbst wieder hochkomplex und in Abhängigkeiten verhaftet. Nicht umsonst spricht man davon, dass „alles mit allem zusammen-hängt“ und deshalb die Handlung eines einzelnen oder einer Organisation stets Auswirkungen, und teilweise sogar weitreichende, wie wir gerade sehen bzw.in der nächsten Zeit noch sehen werden, auf das gesamte System haben. Gerade deshalb sind die Herausforderungen an Führung so vielfältig und beschränken sich bei weitem nicht nur auf die Vorgabe von Zielen („Wir werden vor Toyota die größten Automobilhersteller der Welt“), sondern verlangen nach umfangreicher Beobachtung der Innen- wie der Außenwelt und daraus resultierenden Entscheidungen und Handlungen. Das ist sehr herausfordernd und bedarf vieler Informationen, das wissen Sie als Führungs-kräfte. In der Bewältigung der Komplexität kommt jeder an seine Grenzen, und die beginnen früher als die Komplexität endet. Deshalb ist es gerade in der Führung so wichtig, in Entscheidungen möglichst viele Perspektiven und Wissensträger einzubinden – und dann doch eine solche zu treffen.
Ich möchte die eingangs gestellte Frage, wie solch eine Geschichte, wie sie aktuell VW beschäftigt, passieren kann, wie folgt erweitern: Ist das in Ihrer Organisation auch möglich, und welche Vorkehrungen können Sie treffen, dass es bei Ihnen nicht geschieht? Den ersten Teil der Frage kann ich schnell beantworten: Ja, das ist hochwahrscheinlich auch bei Ihnen möglich wie überall, wo Menschen arbeiten. Das, was am künftigen Berliner Flughafen in den letzten Jahren geschehen ist, ist durchaus auch so zu erklären. Hätte man früher mit offenen Karten gespielt, wäre das zwar auch für manchen nicht schön gewesen, hätte aber nicht zu einer bislang über fünfjährigen Verzögerung geführt. So mag ich es jedenfalls behaupten. Auch ein (interner oder externer) Compliance-Beauftragter schützt Sie da nicht, denn der muss auch erst mal Informationen bekommen. Die Möglichkeiten von Vorkehr-ungen, die Sie treffen können, beginnen hier. Blicken Sie in Ihre Organisation, gerne auch zusammen mit den Führungskräften: Wie ist die Informationskultur in unserem Unternehmen, in unserer Organisation ausgeprägt? Wie fließen die Informationen, nicht nur der Menge und Geschwindigkeit sondern auch der Art nach? Heißt: Wie offen wird gesprochen, wie offen werden Probleme (pardon, Herausforderungen) benannt, und wie wird anschließend damit umgegangen? Wie werden Informationen auf dem Weg nach oben gefiltert? Wie sieht Ihr Kontakt „nach unten“ aus? Kennen Sie noch das „Märchen aus 1001 Nacht“, in dem der Kalif sich des Abends in Bettlerkleidung hüllt, den Palast durch die Hintertür verlässt, um des Nächtens auf den Straßen Bagdads zu hören, was das Volk über ihn spricht und welche Sorgen die Menschen wirklich haben? So umgeht er die Filter seiner Führungskräfte und tut gleich-zeitig etwas für seine Bodenhaftung, deren Fehlen in einigen höheren Führungsebenen vermutlich auch einen Beitrag zu diesen Ereignissen geleistet hat. Vielleicht haben Sie gelegentlich mal Interesse darüber nachzudenken, was Sie wirklich über die Wirklichkeit Ihrer Organisation wissen und was Sie glauben bzw. vermuten. Oder einfach mal durch Ihr Haus spazieren und in Kontakt zu gehen …
Weiter: Besteht in Ihrem Unternehmen, Ihrer Organisation eine Kultur der konstruktiven Kritik? Wie viel Kritik wird zugelassen, und wie wird damit umgegangen? Gilt in Ihrem Hause auch, dass nicht sein kann was nicht sein darf? Ich habe die Vermutung, dass sich das Ansehen und vor allem die Wirkung der zahlreicher werdenden sog. „Whistleblower“ darauf gründet, dass man in den Organisationen keine Möglichkeit sieht, Ideen und Kritik ungestraft (worin auch immer die Strafe bestehen mag, s.o.) zu äußern. Die innerbetriebliche Kritik-, Konflikt- und Wertekultur ist zu schwach. Die meisten der Whistleblower bleiben unerkannt, nur manchmal gibt sich einer zu erkennen, um sein Anliegen noch deutlicher zu machen. Dafür darf er dann u.U. mit Berühmtheit, aber auch mit lebenslangen Sanktionen rechnen.
Alle wissen, dass etwas nicht in Ordnung ist, aber keiner sagt etwas bzw. traut sich, etwas zu sagen: Wenn Sie diese unheilvolle Kette in Ihrer Organisation befürchten und Vorkehrungen treffen bzw. sie erkannt haben und deshalb unterbrechen wollen, damit bei Ihnen so etwas nicht entstehen kann, ist es ratsam, die Kommunikations-, Kooperations- und Führungskultur zu analysieren – und sich auch um das eigene Verhalten zu kümmern. Inwiefern bringt mein Verhalten andere dazu, mir Informationen offen und richtig weiterzugeben und inwiefern fördere ich vielleicht das Schönen oder gar das Unterschlagen von Informationen?
Wenn Sie kritisch die Kooperations-, Kommunikations- und Führungskultur in Ihrer Organisation reflektieren und Ideen für Verbesserungen generieren wollen – Sie wissen ja, wo sie uns finden.
Wir wünschen Ihnenjedenfalls, dass die Wellen des VW-Skandals Ihre Organisation nicht erreichen bzw. negativ beeinflussen.
Viele Grüße
Ihr Thomas Zimmermann