Um uns herum steht die Weltgesellschaft vor enormen Herausforderungen, umso lohnender ist es, den Blick einmal auf ein einzelnes Unternehmen zu lenken, dessen unglaubliche Geschichte ich Ihnen schon seit Längerem erzählen wollte:
Es ist der Entwicklungsweg eines Unternehmens, das weitgehend ohne bzw. gegen die bekannten Führungsregeln arbeitet und seit 30 Jahren prosperiert:
- gewachsen von 90 Mitarbeitern auf über 3.000 innerhalb von 19 Jahren,
- von $ 4 Mio. Umsatz auf über $160 Mio. Umsatz im selben Zeitraum (bis 2001),
- Steigerung der Produktivität um rund 700%,
- stets Gewinne, auch in sehr schlechten Zeiten,
- Investitionen nur aus Eigenmitteln,
- Personalfluktuation unter 1%,
- und viele weitere spannende Kennziffern.
„Wo gibt es denn so etwas“ werden Sie vielleicht fragen, oder auch „Wie geht denn das?“
Ja, so etwas gibt es, aber nicht hier bei uns in Europa oder gar in Deutschland, sondern in Brasilien, was Sie sich als kluge Leserin oder kluger Leser bei der Errechnung des Prokopfumsatzes vielleicht sogar schon gedacht haben, sondern in – Brasilien! Wohlgemerkt in Brasilien, das für vieles bekannt ist, wirtschaftliche Stabilität aber sicher nicht auf den ersten Blick sein Eigen nennen kann. Ein Land, das immer wieder von (Finanz-)Krisen geschüttelt wird, und in dem ein Unternehmen, dessen Namen ich jetzt nenne und das mich, wie gesagt, seit langem beschäftigt, dennoch seit mehr als 30 Jahren kontinuierlich prosperiert:
Semco S/A heißt dieses außergewöhnliche Unternehmen.
Und außergewöhnlich ist es in der Tat, denn diese Organisation widerspricht völlig dem herkömmlichen Bild von Unternehmensführung und ist gerade deshalb so erfolgreich. Was also machen die so anders, dass sie kaum beeinflusst von Krisen und Rückschlägen in einem wirtschaftlich instabilen Umfeld kontinuierlich Erfolg haben, und lässt sich daraus etwas für unsere bzw. Ihre Unternehmensführung lernen?
Ja, es lässt sich, und zwar viel. Als Ricardo Semler in den 80er Jahren das Unternehmen, das damals 90 Mitarbeiter zählte, 4 Mio. $ Umsatz machte und sich mit der Herstellung von Ölpumpen befasste, im zarten Alter von 21 Jahren und ohne Studium von seinem Vater übernahm, traf er auf eine traditionelle Organisation, bei der sich die Augen aller Beschäftigten auf die Entscheidungen des Vaters richteten und in der die Erfüllung der von ihm und den Führungskräften übertragenen Aufgaben alles und eigenes Denken nichts bedeutete. Genau dieses Modell wollte der rebellische junge Mann nicht mehr weiter führen und überlegte sich dann, wie er es anders machen könnte.
Ausgangspunkt war sicher, dass er zuerst mit einem völlig anderen Menschen-bild (ich vermute, beeinflusst von den Arbeiten von Humberto Maturana) an das Unternehmen heranging: Er sah in den Arbeitern erwachsene, denkende und entscheidungsfähige Menschen und keine Befehlsempfänger, denen man alles vorzugeben hatte. Auch in unseren Unternehmen ist mir immer wieder folgendes aufgefallen: Da arbeiten Menschen, die außerhalb des Unter-nehmens in ihrem privaten Kontext weitreichende Entscheidungen eigen-verantwortlich treffen, wie z.B. die Finanzierung und den Bau eines Hauses mit mehreren hunderttausend Euro oder Kapitalanlagen im fünf- bis sechsstelligen Eurobereich. Denselben Personen traut man im Unternehmen noch nicht einmal die eigenverantwortliche Entscheidung über 50 oder 100 Euro zu, nein, dafür bedarf es dann mehrerer Unterschriften. Auch andere Entscheidungen bedürfen, je nach Hierarchiestufe, der Abstimmung mit höheren Etagen, was nicht nur Zeit (und damit Geld) kostet, sondern auch oft Motivation. „Man wird hier behandelt wie ein kleines Kind“ ist eine Aussage, die wir des Öfteren von Führungskräften und Mitarbeitern hören. Man hat Erwachsene eingestellt und behandelt sie wie Kinder? Damit verzichtet man auf Engagement und Mitdenken!
Ricardo Semler war gewillt, sein Unternehmen zu demokratisieren und die Arbeiter und Angestellten mehr in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen, ausgehend davon, dass diese sich dann auch mehr an Entscheidungen gebunden fühlten, da sie ja an diesen mitgewirkt hatten. Schritt für Schritt setzte er seinen Plan mit einigen Mitstreitern um, mit vielen Erfolgen und auch mit vielen Rückschlägen. Er installierte beispielsweise Werkskomitees, in die alle Beschäftigtengruppen ihre Repräsentanten entsenden und in denen mit dem Management aktuelle und Zukunftsfragen beraten werden. In diesen Komitees werden oft auch Entscheidungen getroffen, die nicht unbedingt den Wünschen der zentralen Führungsgruppe (Verwaltungsrat und Partner) entsprechen, aber sie werden akzeptiert und durchgeführt. Für die Führungs-ebene bedeutet das, schon im Vorfeld viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Und immer gilt: Man begegnet sich mit Respekt und Wertschätzung, egal wie different die Meinungen sind!
Ein weiterer logischer Schritt war dann die Abschaffung von Hierarchien, Organisationshandbüchern und Organigrammen – es gibt bis heute kein traditionelles Organigramm in der Semco-Gruppe, so Ricardo Semler. Stattdessen erfand er mit seinen Führungskräften die „runde Pyramide“. Hierbei handelt es sich um 3 konzentrische Kreise: Im innersten Kreis befindet sich der Verwaltungsrat, der sich um allgemeine Richtlinien und Strategien kümmert. Im nächsten Kreis sind die Partner, welche die Unternehmens-bereiche leiten (die Semco-Gruppe umfasst durchschnittlich etwa 15 Unternehmen bei ständigen Zu- und Abgängen). Im dritten Kreis sind die Kollegen, also alle weiteren Mitarbeiter. Diese werden durch Koordinatoren, welche Abteilungen leiten, und im Fertigungsbereich durch Vorarbeiter, welche die Produktion zusammen mit den Arbeitern organisieren, unterstützt. Fertig: Von 12 auf 3 Ebenen, und dennoch prosperiert die Unternehmens-gruppe (oder vielleicht gerade deswegen). Wie viele Meetings, Mails, Bürokratie und missverständliche Abstimmungen entfallen da, wieviel mehr Produktivität kann entstehen! Und es funktioniert, sicher manchmal auch mit Stolpersteinen, weil das Unternehmen die Mitarbeitenden weitgehend einbezieht. Das Credo lautet: Statt Vorschriften und Kontrollsystemen weitgehende Entscheidungsbefugnisse bei den Mitarbeitern vor Ort. Die Überzeugung, die hierfür aufgegeben wurde, lautet: „Oben wird gedacht, unten wird gemacht“. Die Mitarbeiter dort wissen um ihre Verantwortung und gehen damit gewissenhaft um, sonst wäre die Unternehmensgruppe nicht in so kurzer Zeit so stark gewachsen. Sogar den Respekt und die Anerkennung der nicht gerade einfachen brasilianischen Gewerkschaften hat sich Ricardo Semler mit diesem Vorgehen damit verdient – seine Unternehmen sind in dem streikfreudigen Land von Arbeitskämpfen kaum betroffen.
Zum Erhalt der Arbeitskraft und der Kreativität sowie des Engagements hat sich Ricardo Semler mit seinen Leuten auch etwas überlegt: Zunächst gibt es für jeden Mitarbeiter 30 Tage bezahlten Urlaub, und es wird darauf geachtet, dass dieser auch genommen wird. Dann hat er ein großzügiges Gleitzeitmodell eingeführt, dessen individuellen Feinheiten die Teams dann selbst festlegen. Desweiteren bekommen die Mitarbeiter Bildungsurlaub: Spätestens alle 2 Jahre werden die Beschäftigten dazu angehalten, sich aus dem aktuellen Geschehen herauszunehmen und etwas für ihre fachliche oder überfachliche Weiterbildung zu tun – bezahlt vom Unternehmen. Da geht es dann nicht um einen oder zwei Tage, sondern um eine oder zwei Wochen! Man nennt das dort „berufliches Recycling“. Hinzu kommt das, was man hierzulande als Job-Rotation bezeichnet, dort aber weiter greift. Alle drei bis fünf Jahre sollen sich die Mitarbeiter einen neuen Arbeitsplatz im Unternehmen suchen oder ihren Arbeitsplatz so weiterentwickeln bzw. verändern, dass er sich deutlich vom bisherigen unterscheidet. Wird der Platz gewechselt bzw. getauscht, sucht man sich einen Tauschpartner, und diese Partner arbeiten sich gegenseitig ein. Ziel ist es, Verkrustungen und die Aussage „Haben wir schon immer so gemacht“ zu vermeiden. Und wenn jemand das Unternehmen verlassen will, weil er bessere Möglichkeiten für sich sieht: „Bitteschön!“. Er kann gewiss sein, bei einer möglichen Rückkehr bevorzugt eingestellt zu werden. Und viele von den wenigen, die gehen, kommen zurück – und bringen neue Ideen mit. Übrigens sagten 25% der männlichen und 13% der weiblichen Hochschulabsolventen in Brasilien bei einer Umfrage, dass sie am liebsten bei Semco arbeiten würden.
Auch die Führungskräfte werden zur ständigen persönlichen Weiterent-wicklung angehalten. Alle 6 Monate gibt es ein Führungsfeedback, bei dem die Mitarbeiter ihrer Führungskraft einschätzen. Die Ergebnisse werden veröffentlicht, und die Führungskraft ist gehalten, mit den Mitarbeitern über die Botschaft des Feedbacks zu sprechen.
Und es gibt noch vieles mehr, was zum Erfolg beigetragen hat. Vielleicht interessiert es Sie,
- wie alle Mitarbeiter am Gewinn beteiligt werden,
- wie es gut gehen kann, wenn die Mitarbeiter selbst die Höhe des Gehaltes bestimmen,
- weshalb spätestens ab 150 Mitarbeitern eine Organisation geteilt wird, und was das zur Folge hat,
- warum es keine Korruption im und durch das Unternehmen gibt (in Brasilien!) und auch keinen Compliance-Beauftragten,
- warum und wie das Unternehmen den Wunsch der Selbständigkeit bei Mitarbeitern unterstützt und welche Vorteile es daraus zieht,
- wie Transparenz funktionieren kann und wie sie allen nutzt,
- weshalb das Arbeiten zu Hause gefördert wird, und was das Unternehmen davon hat,
- und viele weitere Erfolgsfaktoren.
Dann werden Sie nicht umhin kommen, das Buch von Ricardo Semmler zu lesen, was am Ende dieses Briefes aufgeführt ist!
Nun werden Sie vielleicht sagen, dass Ihnen das eine oder andere doch schon bekannt sei. Das verwundert nicht, denn diese Veränderungen wurden alle bereits in den 80er und 90er Jahren bei Semco herbeigeführt und haben seither, auch durch angesehene Managementschulen, deren Vertreter Semco besuchten und sich das System genau anschauten, weltweit Verbreitung gefunden. Vielleicht werden Sie auch sagen, dass das alles in Brasilien in den 90 er Jahren möglich gewesen sei, aber doch nicht jetzt bei uns in unserem hochindustrialisierten Land. Hier würde ich nicht widersprechen, denn Brasilien hatte und hat sicher in einigen Teilen andere Bedingungen als wir. Allerdings weise ich darauf hin, dass die Semler-Gruppe seit über 30 Jahren mit diesen Verfahrensweisen auch außerhalb Brasiliens wächst und gedeiht und auch heute noch am Markt ist – was man von vielen anderen, traditionell geführten, Unternehmen nicht behaupten kann. Zustimmen würde ich Ihnen aber auch nicht, denn es geht nicht um das Kopieren dieser Herangehens-weise. Es geht um etwas viel wichtigeres: Die Veränderung Ihrer bzw. unserer Annahmen über Organisation, über die Funktionsweise von Organisationen und die Menschen in Organisationen und – daraus abgeleitet – neue oder zumindest andere Vorgehensweisen. Es geht darum, sich inspirieren zu lassen und auch etwas Mut zu schöpfen für eher ungewöhnliche Veränderungen im eigenen Unternehmen. Es geht darum, endlich zu verstehen, dass wir mit einem althergebrachten, oft verfestigten Organisations- und Hierarchie-verständnis mit den Herausforderungen der Arbeit 4.0, der Wissensgesell-schaft, der begrenzten Ressourcen und der schnellen Daten unsere liebe Not haben werden bzw. schon haben.
Prof. Stephan Kaiser und Verena Bader von der Universität der Bundeswehr schreiben hierzu (Human Resource Manager, 19.01.2016): „Social Collaboration Tools sorgen für eine many-to-many Kommunikation, Sorftwarelösungen wie Liquid Feedback ermöglichen eine freie und schnelle Entscheidungsfindung im Unternehmen. Diese neuartigen hierarchie-übergeifenden Kommunikationswege können althergebrachte hierarchische Strukturen sowie Silo-Denken auflösen. … Die allgegenwärtige Datenverfüg-barkeit und der freie Zugriff darauf verleihen dem Mitarbeiter die Kompetenz, Entscheidungen anhand von intelligenter Software und Big-Data-Anwendungen selbst zu treffen … es kommt zu einer Machtverschiebung innerhalb der Organisation zu Gunsten des Mitarbeiters, Führungskräfte werden als Entscheider weniger wichtig.“ Wissen ist also nach wie vor Macht – nur: Es ist nicht mehr ausschließlich bei den (scheinbar) Mächtigen verfügbar.
Es gibt also auch im neuen Jahr einiges zu tun, packen wir´s an. Das Team von synthesis steht Ihnen, wie immer, mit Rat und Tat oder zu einem Gedanken-austausch gerne zur Verfügung. Und lesen Sie am besten eines der Bücher von Ricardo Semler oder schauen Sie seine Vorträge an – es lohnt sich!
Viele Grüße und ein erfolgreiches Jahr,
Ihr Thomas Zimmermann
und das Team von synthesis
Ricardo Semler: „Maverick! The success story behind the world’s most unusual workplace“
Ricardo Semler: „The seven day Weekend – A better way to work in the 21st century“
sowie Vorträge und Interviews von Ricardo Semler auf youtube, z.B. https://www.youtube.com/watch?v=JJ0FQR2gXe0 Vortrag bei MIT
„Die größte Gefahr in Zeiten des Umbruchs ist nicht der Umbruch selbst – es ist das Handeln mit der Logik von gestern.“
Peter Drucker