Sicher kennen Sie die Redewendung: Taucht in Organisationen oder auch in gesellschaftlichen Kontexten ein Thema auf, dem über einen bestimmten Zeitraum besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, spricht man schon mal von „einer Sau, die gerade durchs Dorf getrieben“ wird und meint damit (despektierlich) das aktuelle Thema. Kommt die Sau, um im Bild zu bleiben, am Ende des Dorfes an, verschwindet das Thema aus der Diskussion, und nicht lange danach (oder schon vorher) wird eine weitere Sau losgeschickt, ein anderes Thema tritt dann in den Vordergrund.
Beispiele: Vor Jahren war es das Thema Mobbing, das breit in betrieblichen Kontexten, aber auch im Bereich der öffentlichen Verwaltung und der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Das Thema erregte so (berechtigte) Aufmerksamkeit, und für eine Zeit führte die Diskussion auch zu Verbesserungen. Heute wird über Mobbing und Mobbingopfer (die es nach wie vor gibt) kaum noch geredet.
Dann kam das Thema Burnout auf, der gar nicht so selten in eine schwere psychische Erkrankung führt. Auch diesmal wurde durch die Aufmerksamkeit, die die Diskussion für dieses Thema erzeugte, vielen Menschen geholfen, deren Erkrankung zuvor ignoriert wurde. Heute, im Zeitalter des Gebotes der permanenten Selbstoptimierung, so möchte ich zynisch behaupten, kommt Burnout offiziell nicht mehr oder kaum noch vor.
Burnout gibt es aber nach wie vor, gerade im Kontext der permanenten Selbstoptimierung: Selbstausbeutung als Illusion der Selbstverwirklichung. Der Vorteil der zeitweiligen Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen liegt sicher darin, dass eine größere Anzahl an Menschen sich mit einem durchaus relevanten Thema zeitweise etwas intensiver beschäftigt, mindestens so lange, bis das nächste drankommt. Nachteilig ist, dass das Thema, hat „die Sau erst einmal den Dorfausgang erreicht“, vergessen wird und im Beispielfalle von Mobbing und Burnout die wirklich Betroffenen dann nur noch mit reduzierter Aufmerksamkeit und Hilfe rechnen können – die aber nach wie vor erforderlich wäre.
Aktuell laufen zwei „Säue“ durchs Dorf: New Work (gepuscht auch von der aktuellen, pandemiebedingten Arbeitssituation) und seit etwa eineinhalb Jahren Purpose als Teil von New Work. Von Purpose soll hier die Rede sein. Um was geht es da?
Motivationstheorien: Druck und Zug
In der Motivationstheorie wird schon seit Jahrzehnten (wenn nicht gar seit Jahrhunderten) u.a. zwischen zwei Arten von Motivation unterschieden: Druck- und Zugmotivation. Die Annahme, auf der Druckmotivation basiert, lautet, dass andere (z.B. Mitarbeiter*innen) nicht aus eigenem Antrieb, sondern nur unter Druck arbeiten und Ergebnisse bringen (Theorie X von McGregor: Alle Menschen sind faul und müssen angetrieben und getreten werden).
Druckmotivation verlangt nach festen Regelwerken, die überwacht werden und bei denen im Falle einer Übertretung für die Mitarbeiter*in abgestufte Sanktionen in Kraft treten und spürbar werden. Das dafür erforderliche Anordnungs-, Sanktions- und Überwachungssystem kostet viel Zeit und damit Geld und wird schon aus diesem Grund in aller Regel in unserem Wirtschaftssystem eher abgelehnt (und dennoch gar nicht so selten praktiziert).
Die Zugmotivation hat erkannt, welcher Aufwand mit der Druckmotivation verbunden ist, die auch i.d.R. nur mäßige Arbeitsergebnisse erzeugt, und hat den Spieß herumgedreht. Statt mit Druck wird mit einer wie auch immer gearteten „Belohnung“ gearbeitet, die für den Fall, dass das Ziel erreicht wird, ausgelobt wird. Sie ist/sollte für die Zielperson tatsächlich oder vermeintlich attraktiv sein.
Die Annahme lautet hier, dass Menschen aus eigenem Antrieb arbeiten, etwas leisten wollen (Theorie Y von McGregor). Man geht also davon aus, dass die Zielperson das gewünschte Ergebnis selbstmotiviert (intrinsisch) erarbeitet.
Ein Bild: Man hält dem Esel die Möhre vor die Nase, und dann läuft der los, ohne dass man ihn schlagen muss. Ganz Geschickte binden die Möhre an eine Angel, setzen sich auf den Esel, halten ihm die Möhre vor die Nase und lassen sich so zum Ziel mittragen. Voraussetzung ist allerdings, dass der Esel Vegetarier ist (sehr wahrscheinlich) und Hunger auf Möhren hat (dürfte für die meisten Esel zutreffen).
Leitbild ade
Schon lange hat man erkannt, dass man nur mit Methoden aus dem Spektrum der Zugmotivation einigermaßen kostengünstig die Ressourcen der Mitarbeiter*innen erschließen und anzapfen kann.
Getreu der Tatsache, dass fast alle Menschen nach Zugehörigkeit zu einer bzw. mehreren Gruppen streben, hat man deshalb in sehr vielen Organisationen ein Leitbild entwickelt, das u.a. diese Identifikation mit der Organisation ermöglichen soll. Das Leitbild formuliert Aussagen zu: Wer wir sind, was wir machen/leisten und wie wir unsere internen und externen Beziehungen gestalten u.v.m. Man wollte damit nicht nur Wirkung nach außen erzielen, in dem man das Leitbild auch extern veröffentlichte, sondern den Mitarbeiter*innen auch eine Identifikationsmöglichkeit geben nach dem schwäbischen Motto: „Mir schaffet beim Daimler!“, was zumindest früher nicht nur ein Arbeitsverhältnis, sondern auch eine Einstellung ausdrückte.
Diese meist wirklich gut gemeinten Leitsätze und Leitbilder wurden irgendwo im Hause ersonnen, auf Hochglanzpapier gedruckt und dann den Mitarbeiter*innen kundgetan. Oft passte aber die vorhandene und gelebte Unternehmenskultur nicht zu diesen Leitbildern. Hinzu kam, dass man versäumte, vor allem auf der Führungsebene darüber nachzudenken, was sich in der Organisation verändern müsste, um das Leitbild für alle lebbar und erlebbar zu machen.
Und oft genug korrelierte das Leitbild auch nicht mit den individuellen Wertesystemen der Mitarbeitenden.
Hallo Purpose! Das ergibt Sinn.
Die Generationen Y und Z haben die Unternehmen mit ganz anderen Wünschen und Ansprüchen als die der Babyboomer und der Generation X konfrontiert. Statt materiellen Dingen wie Geld, Karriere und Dienstwagen rückten für diese Gruppen Dinge wie Arbeitszeitgestaltung und, da schau hin, Sinn in den Vordergrund. Die Menschen fingen an, nach einem „wofür“, nämlich wofür sind meine Arbeit, meine Organisation gut, zu fragen, nach einem Sinn, nach dem „Seinsgrund“ ihrer Organisation.
Das individuelle Wertesystem
Die Frage nach dem „wofür“ treibt alle Menschen immer wieder um – kaum jemand hat Freude daran, eine seiner Meinung nach nutzlose Arbeit zu verrichten und das auch noch jeden Tag! Und gar nicht so selten fragen wir, wofür ich/man „das alles“ eigentlich (mit-)macht. Ich arbeite also nicht nur, ich will, dass meine Arbeit gesehen wird, für mich und andere sinnvoll ist und einen werthaltigen Nutzen stiftet – für mich und für andere.
Solche Mitarbeitenden fragen also nicht nur, welchen Beitrag zum großen Ganzen sie mit ihrer Arbeit leisten, sondern auch danach, welchen Beitrag das Unternehmen, das Produkt, die Dienstleistung für die Gesellschaft oder die die ganze Welt leistet – und ob das zu ihren persönlichen Sinnbildern, Werten passt: Will ich das unterstützen? Passt das, was das Unternehmen leistet und wofür es steht, zu meinem persönlichen Wertesystem?
Immer wieder entscheiden sich dann einige Menschen (und oft auch die besonders gut ausgebildeten), auf einen gutbezahlten Job und Karriere zu verzichten und lieber für weniger Geld bei einer Organisation, die mit ihrem Wertesystem korreliert, eine Tätigkeit aufzunehmen. Geld, Dienstwagen, Statussymbole – nein danke, das spielt für sie keine oder eine nachgeordnete Rolle.
Werte sind Kompass in einer hochkomplexen Gesellschaft.
Waren in früheren Zeiten Lebenswege oft auch durch äußere Bedingungen (gesellschaftliche Herkunft, Wohnviertel, finanzielles Potenzial der Familie etc.) vorgegeben, so haben junge Leute heute mehr die Qual der Wahl aus vielen Möglichkeiten.
Gab es früher nur eine begrenzte Anzahl von (Wahl-) Möglichkeiten, besteht heute oft eher für die einzelne Person das Problem darin, zu viele als attraktiv empfundene Alternativen zu haben. Auch ein persönlicher Wertekanon kann hier Entscheidungshilfe leisten. Das haben Unternehmen u.a. im „war of talents“ erkannt. Sie nutzen diese Werte- und Sinnfrage dafür, die für ihre Organisation interessanten Personen zu der Entscheidung, bei ihnen ihre Arbeit aufzunehmen und auch bleiben, zu bewegen.
Die neue Möhre heißt also purpose: Wir sagen, wofür wir (vorgeblich) stehen, was unser Beitrag für die Gesellschaft und deren Weiterentwicklung ist und was und wie wir das im Umgang miteinander leben. Die Worte „shareholder value“ oder „Gewinnmaximierung“ werden Sie in diesen Purpose-Aussagen natürlich nicht finden, nur Werte, die für die Zielpersonen attraktiv sein könnten und mit denen sich diese gerne verbinden. Die Entscheider wissen, dass sich bei einer Verbindung mit dem Purpose bei vielen die Leistungsbereitschaft steigt (= Möhre?).
Hinzukommt, dass in agilen Kontexten ein akzeptierter Purpose bei Ausrichtung und Steuerung einer komplexen Organisation sehr nützlich sein kann. Aber: Werte leben davon, gelebt zu werden, die Sinnfrage muss in Handlungen beantwortet werden und nicht nur in Hochglanzbroschüren. Ein kompletter Altruismus hat damit auf Unternehmensseite bestimmt nicht Einzug gehalten. Ein Wertesystem hilft auch den Führungsebenen, durch Orientierung an den Werten sinnvolle Entscheidungen zu treffen.
Insofern ist es sicher kein Fehler, ein solches für die Organisation zu erarbeiten und zu leben. Allerdings ist auch hier die Absicht ausschlaggebend für den Erfolg: Wird ein solcher Wertekanon aus dem ehrlichen Interesse an Menschen und Gesellschaft erarbeitet oder nur unter dem Aspekt der Funktionalität? Weil man das heute ebenso macht, machen muss, um gute Leute zu bekommen?
Deins – aber nicht meins.
Purpose wird in aller Regel vor allem aus der Unternehmensperspektive heraus formuliert. Das ist verständlich und wahrscheinlich kaum anders möglich. Nur erhebt sich dann die Frage, ob Passe die Unternehmenswerte auch mit den persönlichen Werte von Mitarbeiter*innen zusammenpassen und wenigstens in zentralen Punkten korrelieren.
Als großer Freund von Logotherapie/Existenzanalyse weiß ich sehr wohl um die Bedeutung von Sinn für jeden Menschen. Gerade diese Bedeutung hat Viktor Frankl, den Begründer der Logotherapie, besonders nach den furchtbaren Erfahrungen, die er in mehreren KZ gemacht hat, dazu bewegt, sein Leben und sein Werk diesem Thema zu widmen.
Für mich ist die Frage nach dem Sinn zu wichtig, viel zu wichtig für jeden Menschen, als dass man sie für vordergründige Organisationszwecke missbrauchen sollte. Wohlgemerkt: Wenn eine Organisation nach dem Sinn ihres Wirkens in der Gesellschaft und damit nach ihrer Existenzberechtigung fragt und sich darüber Gedanken macht, ist das sehr zu begrüßen!
Wenn sie daraus Konsequenzen für ihr Handeln, ihren Umgang mit der Umwelt und den Menschen etc. zieht und umsetzt, noch mehr und vor allem dann, wenn das mit aller gebotenen Ernsthaftigkeit und Konsequenz getan wird. Dann werden sich die Menschen bei ihr einfinden und bleiben, die sich damit identifizieren können, die das anspricht, mit deren persönlichen Werten das korreliert. Aus Deins wird meins.
Wenn man aber das Projekt Purpose, vielleicht sogar mit Hilfe einer Beratungsfirma oder Werbeagentur angeht, um der „Sau“, die gerade durchs Dorf getrieben wird, zu entsprechen, wird das von den Menschen durchschaut, von ihnen als weitere „Mode“ abgetan werden und so keine oder kaum Wirkung entfalten.
Die Suche nach und die Herausarbeitung von Purpose für ein Unternehmen ist ein herausforderndes Unterfangen, das ohne die Bereitschaft zur Umsetzung daraus resultierender Konsequenzen in der gesamten Organisation von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Und es ist eine Herausforderung, die anzunehmen sich angesichts der in unseren so rasch verändernden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen lohnt.
Aber bitte ehrlich und konsequent: Sparen Sie sich das Geld für ein solches Vorhaben, wenn Sie nicht zu wirklichen Entwicklungen und Veränderungen bereit sind!
Die Sinnfrage ist für uns alle und unser Leben (auch und gerade in und nach der Pandemie) so wichtig, dass man sie nicht für Marketingzwecke missbrauchen darf. Wenn Sie jedoch an einer ernsthaften Betrachtung der Sinnfrage für Ihr Unternehmen interessiert sind – Sie wissen, wo Sie uns finden.
Wir wünschen Ihnen einen wunderschönen und möglichst einschränkungsfreien Sommer und grüßen Sie herzlich
Ihr
Thomas Zimmermann
und das Team von synthesis