Mia kommt nach Hause

Mia kommt nach Hause

Mia kommt nach Hause, völlig fertig, wirft alles von sich und legt sich aufs Bett. Die Energie reicht noch, um mit der Katze zu spielen, und nach einer Pause geht es weiter mit der (schleppenden) Erledigung diverser Aufgaben. Der Terminkalender ist voll, alles will erledigt werden. Nach dem Abendessen fällt sie in den Schlaf und wird morgens einfach nicht wach, egal wie viel Wecker klingeln. Fachleute haben ihr Burnout bescheinigt.

Das kennen Sie von sich, denken Sie vielleicht, aber wer um Gottes Willen ist Mia, und warum erzählt der das alles hier?

Mia ist 10 Jahre alt und in der 5. Klasse eines G 8 Gymnasiums. Sie ist Schülerin, mit 10 Jahren eigentlich am Anfang ihres Lebens und doch in gewisser Weise schon am Ende. Neben dem regulären Unterricht besucht sie noch 2 Arbeitsgemeinschaften, ausgewählt auch im Hinblick auf spätere Leistungsnachweise, hat 3 mal die Woche zusätzlich zu Unterricht und Hausaufgaben noch Nachhilfe, denn schlechter als die Note 2 kann und will sie nicht akzeptieren. Ihr Arbeitspensum steht dem eines Erwachsenen in nichts nach und übertrifft es sogar. Nach einem Bericht des Magazins 39° des ZDF (ausgestrahlt am 15.01.2014) wird an zunehmend mehr Kindern und Jugendlichen völlige Erschöpfungszustände, Angstpsychosen und auch Depressionen diagnostiziert.

Ursache ist in den allermeisten Fällen der Leistungs- und vor allem Notendruck in der Schule, der von der Institution und/oder den Lehrern und/oder den Eltern, oft auch von den Betroffenen selbst und nicht zuletzt von der Wirtschaft ausgeht. Sie haben begriffen, wie unsere Gesellschaft funktioniert und was man zu bringen hat, wenn man „etwas werden“ will. Schüler einer 11. Klasse äußerten sich im Interview ganz klar dahingehend, dass Leistung und Noten alles entscheiden und sie deshalb büffelten bis zum Umfallen. Für diesen Fall, so der Bericht, haben sie eine Notfallapotheke mit allerlei Schmerzmitteln und anderem, vermutlich auch Tranquilizern oder Aufputschmitteln, dabei. Freizeit? Das nötigste. Weitergehende Interessen? Wenn im engen Kalender noch etwas Zeit ist und sie möglichst später mal beruflich verwertbar sind. Persönlichkeitsbildung? Was ist das denn?

Passen Persönlichkeitsbildung und Leistung zusammen?

Leistung ist aber mehr als gute Noten. Zur Leistung gehört nicht nur Wissen, sondern auch die Fähigkeit, Zusammenhänge über mehrere Gebiete herzustellen, Perspektiven einnehmen zu können, denken zu können. Und noch ein wenig mehr. Ein in der Sendung befragter Schulleiter, im Amte ergraut, bringt es auf den Punkt: Es geht in der Schule nur noch um Noten, nicht mehr um die Heranbildung einer Persönlichkeit. Das Wort Gymnasium kommt vom griechischen gymnásion und bezeichnet einen Ort der körperlichen und geistigen Erziehung und Ertüchtigung. Heute, so scheint es, ist es vor allem ein Ort, wo der Nachwuchs für den Arbeitsmarkt herangebildet wird und zwar so, wie der Arbeitsmarkt ihn anfordert und haben will – und oft in einer kurz-, allenfalls mittelfristigen und kaum in einer langfristigen Perspektive. Sonst wären die Anforderungen oft anders. Haben Unternehmen früher oft beklagt, dass die schulische und universitäre Ausbildung an den Bedürfnissen des Marktes vorbei ginge (was sicher nicht ganz falsch war), so wird heute vielfach nur noch auf die „Employability“ geachtet, also darauf, dass man einen Weg einschlägt, der vom Markt akzeptiert wird.

Schon Kinder werden, besonders in asiatischen Ländern, ihrer Kindheit oder eines Teils ihrer Kindheit beraubt, indem sie schon in frühen Jahren auf die Erwachsenenwelt getrimmt werden. Sicher wollen die Eltern das Beste für ihre Kinder, denn sie wissen, dass da draußen nur Leistung, Leistung, Leistung zählt, wenn man die besseren Jobs (oder überhaupt einen) haben will. In besonders schrecklichen Fällen kann es dann wie folgt ausgehen: Der Sohn einer befreundeten Familie mit sehr guten Abschlüssen überstand ein hartes Assessment einer international tätigen Unternehmensberatung und bekam den schwer zu erringenden Top-Job. Mit ihm zusammen ein anderer junger Mann, ebenfalls 28 Jahre alt. Beide nahmen die Tätigkeit auf: 60 Stundenwoche, kaum Wochenende und Erholung, viel Reisen, interessante Aufgaben und sehr gute Bezahlung. Nach 4 Monaten hielt es der eine nicht mehr aus und erhängte sich. Nach 5 Monaten kündigte der Sohn der befreundeten Familie und hat jetzt eine ihn sehr erfüllende Tätigkeit gefunden – und ist noch am Leben. Hier geht es nicht um Schuldzuweisung, der Suizid kann viele Gründe gehabt haben. Hier geht es ein wenig darum, wie Unternehmen mit Mitarbeitern umgehen, aber auch, wie unser Wirtschaftssystem mit Menschen umgeht.

Noch eine Begebenheit aus der Wirklichkeit: Im Rahmen der Bewertung von Semesterarbeiten (ich habe einen Lehrauftrag an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin) gab ich auch für weniger gute Arbeiten die entsprechenden Bewertungen. Beschwert haben sich aber nicht die Studenten mit den schlechteren Noten sondern die, denen ich ein 1,7 gegeben hatte. Sie äußerten den Wunsch nach einer 1,3, besser gleich einer 1. Begründung: Mit anderen Noten könne man nichts werden. Aus der Mitwirkung bei der Besetzung vieler Stellen in Unternehmen weiß ich: Noten sind Hinweise, für den langfristigen Erfolg ist die Persönlichkeit dahinter noch wichtiger! Wissen findet man auch in Computern, im kreativen Denken sind die Menschen denen zumindest bislang voraus.

Was nützt Unternehmen längerfristig!

Was oft auf der Strecke bleibt und was der Bericht im Fernsehen auch eindrucksvoll gezeigt hat, ist also, auch nach den Worten des Schulleiters, die Heranbildung einer gesamten Persönlichkeit. Schon Einstein schrieb: „Unbegrenzte Konkurrenz führt zu einer riesigen Verschwendung von Arbeit und zu dieser Lähmung des sozialen Bewusstseins von Individuen, die ich zuvor erwähnt habe. Diese Lähmung der Einzelnen halte ich für das größte Übel des Kapitalismus. Unser ganzes Bildungssystem leidet darunter. Dem Studenten wird ein übertriebenes Konkurrenzstreben eingetrichtert und er wird dazu ausgebildet, raffgierigen Erfolg als Vorbereitung für seine zukünftige Karriere anzusehen […]“. Eine Persönlichkeit besteht nicht nur aus eingetrichtertem Fachwissen, sondern auch aus kulturellem Wissen und der Fähigkeit, zwischen verschiedenen Sachgebieten und Fragestellungen Zusammenhänge herzustellen, also zu denken.

Erinnern wir uns an einen Herrn, der vor vielen Jahren in Weimar lebte und wirkte, Johann Wolfgang von Goethe. Er war nicht nur Politiker, sondern kannte sich sehr gut in den Naturwissenschaften sowie in der Philosophie aus und hat ein gewaltiges literarisches Werk hinterlassen. Solche Universalgelehrte gab es mehrere, und auch in der heutigen Zeit gibt es Menschen, deren Wissen und Blick über mehrere Fachgebiete reicht. Es geht nicht darum, lauter kleine Goethes heranzubilden. Es geht darum, Menschen in die Lage zu versetzen, mit der Komplexität unserer Welt umzugehen. Den Herausforderungen zu begegnen, ist nur möglich, wenn das Denken nicht synchronisiert ist, sondern different. Ich entstamme noch einer Generation, die 1969 ff. politisiert wurde, die großes Interesse an der Fortentwicklung unserer Gesellschaft hatte (habe ich heute noch) und darüber hart diskutiert und gerungen hat. Wahrlich nicht alles war gut und passend, blickt man zurück, aber die Diskussionen haben auch uns geprägt. Heute habe ich den Eindruck, dass viele jungen Leute das System eher als selbstverständlich und auch nicht weiter kritikwürdig hinnehmen, zumindest so lange ihre Interessen gewahrt sind.

Auch Unternehmen sind auf kritische Geister und kantige Persönlichkeiten angewiesen: Woher sollen sonst die bahnbrechenden Ideen kommen, wie soll sich sonst die Organisation weiterentwickeln? Viele Unternehmen sind daran zugrunde gegangen, dass in der Organisation keiner Ansichten und Meinungen vertrat oder diese zumindest in Frage stellte, die der Hauptdenkrichtung widersprachen. Wird das System nicht offen gehalten für das, was draußen passiert, wird das draußen über kurz oder lang das System abhängen.

So wenig es sinnvoll ist, völlig losgelöst von der Realität in unserem Land und in der Welt Menschen ausschließlich nach ihren Interessen und Wünschen heranzubilden und zu fördern, so wenig ist es sinnvoll, Menschen ausschließlich für die kurz-, allenfalls mittelfristigen Bedürfnisse der Wirtschaft heranzubilden. Das kann auch nicht im Sinne der Wirtschaft sein und ist es auch nicht. Oft genug höre ich die Klage, dass gerade auch junge Leute sehr gut fachlich ausgebildet seien, es aber leider am übergreifenden Denken fehle und, je nach Kontext, auch an kultureller Kompetenz. Ich möchte deshalb darauf hinweisen, dass m.E. eine ausschließliche Fokussierung auf wirtschaftlich optimal verwertbare Kompetenzen für unser System bereits kurzfristig sehr gefährlich werden kann. Für die Aufrechterhaltung der Funktionalität eines Systems ist es unabdingbar, allen Systemkomponenten die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.

Anforderungen an unser Schulsystem

Es geht also darum, dass wir unsere Schul-und Ausbildungssysteme daraufhin überprüfen und ausrichten, wie sie (wieder) einen Beitrag zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung leisten können. Die Entdeckung und Förderung sowohl der naturwissenschaftlichen wie auch der geisteswissenschaftlichen und vor allem auch der musischen Kompetenzen ist voranzutreiben. Neben Mathematik, Physik oder Deutsch haben auch Musik, Kunst und Philosophie ihren Platz im Unterrichtskanon, auch in den höheren Klassen! Denn auch das scheinbar (wirtschaftlich) Unnütze wie Kunst oder Philosophie stiftet Nutzen: Menschen lernen, über ihre eigenen Grenzen hinauszudenken, Perspektiven zu wechseln und über den sprichwörtlichen Tellerrand zu schauen. Wie wäre es denn mal mit zweckfrei lernen: Aus Interesse heraus und ohne dass sich das beruflich oder sonstwo gleich auszahlt.

Unternehmen tun gut daran, auch Personen einzustellen, die vielleicht nicht die besten Noten, dafür aber Persönlichkeit und die Fähigkeit, grenzüberschreitend zu denken, mitbringen. Einige haben es schon gemerkt und stellen auch fachfremde Personen für bestimmte Jobs ein, weil sie deren intellektuelle Kompetenz nutzen wollen und sicher sind, dass sich das Fachwissen aufgrund vorhandener intellektueller Kompetenz bei diesen Personen entwickeln wird. Vor Jahren nannte bei einer Fachtagung der inzwischen emeritierte Prof. Sarges, Hamburg, folgendes Beispiel: Bringen Sie mir einen Pastor, und ich mache daraus einen Maschinenverkäufer (wobei einige Pastoren sowieso schon gut verkaufen können). Er schrieb dann eine Gleichung an die Tafel: L = K x W, Leistung = Können x Wollen. Das Können, so Sarges, kann man erwerben, das Wollen (und hier war die ganze Persönlichkeit gemeint) muss man mitbringen. Diese Aussage lässt sich auch auf die Situation in Unternehmen münzen: Wenn jemand die richtige Persönlichkeit hat, bringen wir ihr/ihm den Rest schon noch bei. Aber Achtung: Eine geeignete Persönlichkeit hat natürlich noch nie – ohne langjährige Fachausbildung beispielsweise – einen guten Arzt gemacht (aber manch einer ist allenfalls ein durchschnittlicher Arzt, weil es an Persönlichkeit fehlt). Auch hoffe ich, dass mein Auto von einem gut ausgebildeten Mechaniker repariert wird und nicht von einem interessierten Laien.

Den Worten kann ich folgen, mag nun der eine oder die andere Leserin denken, allein: Das System ist so, da können wir nichts machen. Aber wer ist „das System“? Wir alle, gerade in Unternehmen, gestalten es, es entsteht aus unseren Handlungen. Warum also nicht mal etwas anders machen? Beispielsweise bei Einstellungsvorgängen neben den fachlichen Qualifikationen auch der Persönlichkeit Aufmerksamkeit zu schenken: Passt er/sie in unsere Kultur? Kann diese Person uns auch kulturell und als Organisation voranbringen? Kann diese Person unterschiedliche Ansätze miteinander verbinden? Ist da genug kritischer Geist, um auf bedenkliche Entwicklungen hinzuweisen? Sind da überfachliche Ressourcen, die unserer Organisation gut tun (würden)? Und natürlich auch unseren Kindern Freiraum einzuräumen, damit sie werden können.

Das Leben ist reich an Facetten und wir tun gut daran, uns nicht nur auf einige zu konzentrieren. Leistung ist natürlich wichtig und zur Aufrechterhaltung unseres Standards unabdingbar, aber sie ist nicht alles. Im Coaching habe ich mehr als eine Person getroffen, die hervorragende Leistungsergebnisse hatte, bei der die anderen Facetten des Lebens aber zu kurz gekommen waren. Sie standen dann nicht nur vor einer Lebens- sondern auch vor einer Leistungskrise. Es gibt durchaus Unternehmen, die um die Ganzheitlichkeit von Menschen wissen und entsprechende Angebote machen. In erster Linie ist aber jeder einzelne aufgerufen, für sich zu sorgen. Und gemeinsam können wir auch auf unser Bildungssystem einwirken, dass hier wieder mehr der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit gesehen wird.

Herzliche Grüße und ein wunderschönes Frühjahr,
Ihr

Thomas Zimmermann
und das Team von synthesis


Noch ein Literaturtipp, passt zum Thema:
Irvin D. Yalom, Das Spinoza-Problem, München 2013