Anwesend, aber nicht da?

Anwesend, aber nicht da?

Das von oben geschossene Bild beschäftigte vor einiger Zeit ganz Deutschland und zeigte einen Bundesfinanzminister, der – anstatt aufmerksam einer Bundestagsdebatte zuzuhören – ganz offensichtlich mehr Spaß am Sudoku-Spielen auf seinem iPad als an den Reden seiner Kollegen hatte.

Nun muss sich Wolfgang Schäuble – von ihm ist die Rede – nun wahrlich nicht der Faulheit zeihen lassen, gilt er doch als das Musterbeispiel eines Menschen, der von sich viel, manches Mal sogar zu viel, abverlangt, um unserem Gemeinwesen zu dienen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging, als Sie das Foto gesehen hatten, aber ich empfand – ganz im Gegensatz zu der Zeitung mit den großen Buchstaben – weniger Häme denn Mitleid mit dem Menschen Wolfgang Schäuble. Vielleicht wäre ihm (und uns allen) mehr damit gedient gewesen, wenn er an dem Tag zu Hause geblieben wäre, entspannt in den Himmel hätte gucken können und sich auf die weiteren Herausforderungen – zum Beispiel mit einem Sudoku-Spiel – hätte vorbereiten können.

Aber dann – und jetzt komme ich auf den Kern des Problems – wäre Schäuble „absent“ gewesen. Nicht da, krank, nicht im Einsatz, und das bei der wichtigen Debatte! In Deutschland haben wir es nahezu zu einer Perfektion gebracht, den sogenannten Absentismus in Zahlen zu erfassen und in den Mittelpunkt betriebswirtschaftlicher Betrachtungen zu rücken. Die Annahme: Wer nicht da ist, kann dem Unternehmen auch nichts nützen, er schadet ihm sogar. Natürlich ist die Absentismusanalyse wichtig, um Schwachstellen im Unternehmen aufzudecken.

Ich will heute auf ein anderes Phänomen aufmerksam machen, nämlich auf das des Präsentismus und dazu eignet sich – ich bitte hier den tüchtigen Wolfgang Schäuble um Nachsicht – das Bild des Sudoku-spielenden Ministers ganz vorzüglich. Man ist da und doch nicht da! Kurz: Präsentismus.

Präsentismus. Was ist das überhaupt?

Da kommen Menschen zur Arbeit, sind da und bemühen sich einen Teil des Tages damit, etwas zu tun oder zumindest beschäftigt zu erscheinen und sich dabei nicht allzu sehr zu verausgaben. In einem Vortrag erzählte Dr. Wilfried Reuter einmal von seiner Zeit als Arzt im Krankenhaus, als er dort einen Kollegen gehabt habe, der immer sehr geschäftig erschien und dennoch nur wenig Zählbares zustande brachte. „Das Geheimnis ist die schnelle Bewegung, immer in Bewegung sein, dann glauben alle, man ist fleißig“ deckte er seinem Kollegen Reuter das Geheimnis auf. Manche Mitarbeiter sind z.B. sehr damit beschäftigt, im Internet (soweit Zugang vorhanden) ihre privaten Belange zu verfolgen – sieht arbeitsam aus, bringt aber dem Unternehmen in der Regel keinen Nutzen. Dies ist die eine Gruppe der „Präsentisten“, die da sind, aber nichts oder nicht viel leisten wollen. Merke: Wer da ist, ist nicht immer auch hier!

Die andere Gruppe umfasst Menschen, die trotz gesundheitlicher Beeinträchtigungen zur Arbeit kommen, anstatt sich auszukurieren. Sie wollen da sein, können aber nichts oder nur eingeschränkt leisten. Merke: Wer da ist, ist nicht immer auch gesund! Sie drohen (je nach Krankheit), die Kollegen anzustecken, bringen bei weitem nicht die übliche Leistung und verlängern dadurch, dass sie trotz Krankheit da sind, u.U. noch die eigene Krankheitsphase. Die Motive hinter solchem Handeln sind vielschichtig und reichen von Angst vor Arbeitsplatzverlust oder gravierenden Nachteilen am Arbeitsplatz über ein ausgeprägtes Bewusstsein zur Pflichterfüllung bis zu Unabkömmlichkeitsphantasien. Manchmal reicht auch schon die Erfahrung, dass im Unternehmen über Kranke abfällig im Sinne von Drückebergern gesprochen wird.
Zu betrachten ist deshalb an dieser Stelle auch die Unternehmenskultur: Welchen Stellenwert hat Krankheit, wie wird über Kranke gesprochen, wie mit ihnen umgegangen, darf man überhaupt krank sein ohne Ansehensverlust? Genießt derjenige, der „mit dem Kopf unterm Arm“ dennoch zur Arbeit kommt, besonders hohe Wertschätzung bei den Vorgesetzten (egal wie produktiv er/sie ist)? Und wie sieht das aus bei Menschen in schwierigen persönlichen psychischen Situationen (Gefühl des ausgelaugt seins, Burnoutbedrohung, Beziehungsprobleme, Verlust von Angehörigen etc.)? Wird das zumindest verstanden oder kommen „nur die Harten in den Garten“? Diese Mitarbeiter sind dann zwar oft körperlich da und auch leistungsbereit, aber nicht leistungsfähig. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass Arbeit durchaus eine helfende Funktion bei der Bewältigung schwieriger psychischer Situationen haben kann.

Ursachen für Präsentismus

Was sind mögliche Ursachenfelder für Präsentismus? Die nachfolgenden Hinweise gelten für beide genannten Gruppen:

  • Führungsschwäche: Die Führungskraft führt zu weit (laisser faire) und es kommt nicht darauf an, was jemand macht oder wie und in welcher Zeit. Oder sie führt zu eng, so dass sich niemand mehr traut, sich persönlich zu äußern. In einer Befragung im Hotelsektor in den USA kristallisierte sich der Risikofaktor Vorgesetzter heraus: 9 von 10 der be fragten Beschäftigten gaben an, dass sie negative Gefühle beim Kontakt mit ihren Vorgesetzten hatten. Schon allein deswegen sollten höhere Ebenen sehr auf das Verhalten ihrer Führungskräfte, aber auch auf das eigene achten, das leicht zur Ergebnisvernichtung führen kann. Mangel an Empathie, fehlendes Wissen über Arbeitsrealitäten, ungebremstes Durchreichen von Druck – man kann schnell viel falsch machen in der Führung! Unterforderte genauso wie ängstliche Mitarbeiter bringen nun einmal nicht ihre volle Leistung.
  • Organisationsmängel: In einer Untersuchung bei der Polizei mit der Frage, was den Polizisten Unwohlsein in ihrer beruflichen Situation bereite, antworteten die Befragten mit Angaben wie schlechte Schreibtische, umständliche Computerprogramme, baulichen Mängeln an den Wachen u.v.m. Erst auf Platz 13 wurde die eigentliche polizeiliche Arbeit (die oft alles andere als einfach ist) genannt! Organisations-mängel wie z.B. unsinnige Entscheidungswege finden sich aber auch in Aufbau- und Ablaufstrukturen wieder, und wenn man das Gefühl hat, sowieso nur für den Papierkorb zu arbeiten, ist die Motivation nicht besonders ausgeprägt. Manche versuchen allerdings auch, Organisationsmängel mit erhöhtem Engagement auszugleichen.
  • Psychische Beeinträchtigungen: Hier ist nicht nur an arbeitsbedingten Stress oder Stimmungsschwankungen gedacht, sondern auch an private Lebenssituationen, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, oder der Verlust der Lebensziele, Enttäuschungen u.ä.. In unserem System und in den Unternehmen wird Rationalismus groß geschrieben: Man sucht (und findet) meist für alle Abweichungen rationale Erklärungen, die Emotionalität bzw. der emotionale Anteil wird erst später, wenn überhaupt, betrachtet. Auch die Verbindungen von Psyche und Physis wird häufig noch unzureichend gesehen. Aber so logisch ist der Mensch nicht gestrickt, ganz im Gegenteil, und unsere Emotionalität beeinflusst die Ratio mehr als man wahrnimmt oder wahrnehmen will. Deshalb ist es nur logisch, dass unsere Gefühlslagen sehr stark Arbeitsverhalten und -ergebnisse beeinflussen. Nach Angaben von Prof. Bernhard Badura (Bielefeld) leiden 15% der Führungskräfte und 20% der Mitarbeiter im deutschen Unternehmen ständig oder häufig unter depressiven Stimmungen.
  • Physische Beeinträchtigungen: Schmerzen, die Erfahrung hat jeder schon einmal gemacht, können sehr viel Energie von der Arbeit abziehen und tun das auch. Wie sehr eine Erkältung Aufmerksamkeit und Ergebnis beeinträchtigen kann, hat jeder schon einmal erfahren. Auch mit einem gebrochenen Bein kann man vielleicht arbeiten gehen – nur: bringt es wirklich etwas oder verlängert es den Heilungsprozess? Belegt ist, dass die Krankheitskosten durch Präsentismus steigen.
  • Mangel an Wir-Gefühl: Jeder Mensch will einer (oder mehreren) Gruppen zugehörig sein, da Gruppen uns Sicherheit und soziale Akzeptanz bieten. Gezieltes Mobbing bezieht einen Teil seiner Zerstörungskraft auch daraus, dass der Verlust zur Zugehörigkeit zu einer Gruppe angedroht oder befürchtet wird. Wenn jeder nur seins macht und es an gemeinsam geteiltem Sinn in der Arbeit fehlt, ist schnell ein Gefühl von „es ist sowieso alles egal“ erreicht, und Präsenz (da sein ist alles) und damit Präsentismus wird als ausreichend betrachtet. Nach Prof. Badura treiben übrigens vor allem Kollegen und/oder Führungskräfte Menschen aus Unternehmen und zur Kündigung, aber auch die nicht mehr vom Einzelnen zu teilende oder nicht erlebte Mission der Organisation.
  • Starre durch Überforderung/Unterforderung/Resignation: Wir müssen heute viele Dinge tun, für die wir nicht oder nicht ausreichend ausgebildet sind oder zumindest das Gefühl haben, es nicht zu sein. Durch Präsenz und oft wenig effektive Aktivität wird versucht, Inkompetenz, so gut es geht, zu vertuschen. Ähnliches gilt auch für die umgekehrte Situation, die Unterforderung: Damit niemand mitbekommt, dass Ressourcen brach liegen, wird für den Eindruck von Geschäftigkeit gesorgt. Dauerhaft erlebte Sinnlosigkeit oder Wirkungslosigkeit kann allerdings zu psychischen Beschwerden, die sich auch somatisch ausdrücken können, führen. Das gilt auch für die Resignation aufgrund erlebter Einflusslosigkeit: Mein Handeln hat keine Wirkung, oder ich erlebe diese Wirkung nicht. Ich habe so vieles probiert und angeboten, aber mein Engagement wird nicht gewollt/ nicht geschätzt. Die erlebte Wirkungslosigkeit führt zur Resignation und zum weitgehend leistungs-freien Präsentismus: Jeder muss von irgendetwas leben, deshalb spiele ich das Spiel mit, so gut es geht, und am Monatsende kommt das Geld.

Umgang mit Präsentismus

Präsentismus heißt also, dass die MitarbeiterInnen da sind, aber aufgrund fehlender Motivation oder gesundheitlicher Beeinträchtigungen nicht das zum Unternehmenserfolg beitragen, was sie beitragen könnten und wofür sie bezahlt werden. Geht man von der Tatsache aus, dass jeder Mensch etwas leisten will, gilt es die Frage zu beantworten, wie man der durch Präsentismus bewirkten Ergebnislosigkeit bzw. Ergebnisminderung entgegentreten und was De- bzw. Übermotivierte zu sinnvollem Verhalten hinführen kann.

„Wer die intrinsische Motivation (also in ihnen selbst angelegte Motivation) der MitarbeiterInnen fördern und erhalten kann, wird als Unternehmen erfolgreich sein“, sagte Prof. Badura beim Kongress „Wirtschaft und Gesundheit“ der Akademie Heiligenfeld in Bad Kissingen im Mai 2012. In unserem Jahrhundert werden schwer kopierbare und oft immaterielle Dinge wie know how, Erfindergeist und Empathie den Unterschied zwischen viel und wenig (oder gar keinem) Erfolg eines Unternehmens machen. Unternehmensseitig ermöglichen beispielsweise emotionale Bindung an das Unternehmen Zugang zur intrinsischen Motivation des Mitarbeiters bzw. der Mitarbeiterin. Wer sich zugehörig und aufgenommen fühlt, wird nicht durch weitgehend leistungsfreie Präsenz auffallen. Auch das Vertrauen, welches das Unternehmen bzw. die Führungskräfte in den Beschäftigten setzt, spricht die intrinsische Motivation an. In Zeiten zunehmender Bürokratisierung mit immer mehr Vorschriften ist die Frage nach Vertrauen durchaus berechtigt (und kann kostenmindernde Wirkung haben), und manchmal frage ich mich, ob das Verhältnis von Qualitätsmanagement und Vertrauen ausreichend betrachtet und analysiert wird. Wertschätzender Umgang aller Akteure im Unternehmen miteinander ist ein weiterer Zugang zur intrinsischen Motivation und repräsentiert vielleicht sogar die Basis von allem. Nicht zu vergessen ist die Loyalität des Unternehmens zum Mitarbeiter, die sich auch in der Unternehmenskultur (siehe Anfang dieses Briefes) ausdrückt. Dazu gehören auch sehr gut geführte (!) Rückkehrgespräche nach Krankheit, die dem Unternehmen Informationen zur Situation am Arbeitsplatz liefern und dem Mitarbeiter seine Wichtigkeit für das Unternehmen signalisieren. Ein gutes Gesundheitsmanagement kann überdies dazu führen, den Präsentismus abzubauen und Kostenvorteile im Wettbewerb zu generieren.

Die Urlaubssaison steht vor der Tür, und so wünsche ich Ihnen wirklich erholsame Urlaubstage und damit verbunden den Mut, Laptop und Handy zu Hause zu lassen und sich ganz Ihrer Erholung und der Pflege Ihrer Gesundheit hinzugeben! Und vielleicht ergibt sich ja nach dem Urlaub die Gelegenheit, über betriebliches Gesundheitsmanagement und den „Präsentismus“ in Ihrem Unternehmen zu sprechen. Kennen auch Sie dieses Phänomen? Beeinträchtigt es die Leitung Ihres Unternehmens? Wo setzt man an, um es zu erkennen?

Herzliche Grüße, Ihr

Thomas Zimmermann und Kollegen

Urlaubszeit ist Lesezeit!

Etwas Schönes: Quarch, Christoph: Hin und Weg – Verliebe Dich ins Leben
Etwas Aufrüttelndes: Geissler, Heiner: Sapere aude – wage zu denken!