Silvester, der 31. Dezember: Der letzte Tag eines Jahres bietet zahlreiche Rituale, die uns den Abschied vom abgelaufenen Jahr und den Übergang in ein neues leichter machen. Die einen joggen bei (meistens) Eiseskälte die weihnachtlichen Köstlichkeiten von der Hüfte, für andere spielt die Zubereitung (und natürlich die Größe) eines Karpfens eine ganz besonderRolle, und für Dritte sind die festlichen Neujahrskonzerte fester Bestandteil des letzten Tages des Jahres.
Ich bekenne mich hiermit zur dritten Gruppe – der der Konzertgenießer. In diesem Jahr habe ich dem Neujahrskonzert 2012 der Berliner Philharmoniker nicht in der Philharmonie gelauscht, aber auch nicht vor dem heimischen Fernseher. Ich hatte Gelegenheit, das Konzert als Live-Übertragung in einem kleinen, aber feinen Kinosaal, dem Astor Launch, am Berliner Kurfürstendamm auf großer Leinwand nicht nur zu hören, sondern richtig zu erleben. Meine Traurigkeit, in diesem Jahr keine Karte für das Live-Konzert bekommen zu haben, verflog schnell, denn der Tiefgründigkeit der Kamera brachte mir in dieser einzigartigen Umgebung Einblicke, die ich weder im Konzertsaal noch zu Hause hätte haben können.
Ich sah die vollständige Konzentration der Musiker auf ihr Spiel bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit für den Dirigenten und die Kollegen, ich konnte die fehlerfreien Einsätze einzelner Instrumente bzw. von Instrumenten-gruppen auf den Punkt genau nachvollziehen, ich spürte das Leben von Musik durch den überragenden Pianisten des Abends, Evgeny Kissin, und schließlich schaute ich auf den spielerisch anmutenden Einfluss des Dirigenten, Sir Simon Rattle, auf das Orchester, welches er zu einer absoluten Spitzenleistung führte.
Wie macht Sir Simon das?
Berufsbedingt erhob sich da natürlich auch bei mir die Frage: Wie macht dieser Dirigent das? Wie beeinflusst er diese Gruppe von hochkarätigen Spezialisten, ihr Ego ein wenig zurückzustellen und dafür eine solche hervorragende konzertante Leistung zu erbringen? Was für eine Führungskraft ist das?
Dank der Kameraführung waren immer wieder längere Bildsequenzen von Sir Simon Rattle zu sehen, Einblicke, die der Konzertbesucher normalerweise nicht genießen kann und die den Musikern vorbehalten sind. Verschiedene Dinge meine ich erkannt zu haben:
- Sir Simon lebt körpersprachlich jeden Takt der Musik.
- Er drückt die Emotionen der Musik und seine eigenen über die Mimik deutlich aus.
- Er hat seine Musiker auch im Blick, wenn er die Augen geschlossen hält.
- Bruchteile vor dem Einsatz wendet er sich den auf ihren Einsatz wartenden jeweiligen Musikern zu und bringt sie so exakt zum richtigen Zeitpunkt ins Spiel.
- Vor dem Auftakt schaut er alle mit einem Blick an, der signalisiert: „Ihr werdet das großartig machen“, und nach dem Musikstück signalisiert sein Blick: „Ihr ward großartig! Danke!“
- Er bedankt sich bei den Musikern und lässt sie glänzen, nimmt sich selbst zurück und hebt Solisten (und nicht nur die erste Geige) besonders hervor.
- Er hat Freude an seiner Arbeit, verfügt über Humor und zeigt beides.
- Wenn er es macht, macht er es richtig: Aus der Presse war zu erfahren, dass er nicht mit allen ausgewählten Musikstücken ganz einverstanden war. Gemerkt hat man davon im Konzert nichts, er widmete sich allen Stücken mit der gleichen Intensität und Überzeugung.
Gar nicht so geheime Erfolgsfaktoren von Führung
Welche Parallelen lassen sich daraus für die Führungsarbeit ziehen? Der Vergleich zu Orchestern wurde und wird in der Führungsdiskussion ja immer mal wieder gezogen und mit jeder Menge guter Argumente manchmal auch abgelehnt. Es geht hier nicht darum zu beweisen, inwiefern sich Orchester und Mitarbeitergruppen eines Unternehmens ähneln oder unterscheiden. Interessant ist, welche Herangehensweise dieser international anerkannte Spitzendirigent hat und warum es ihm gelingt, aus einem Orchester (dessen Mitglieder aus 25 verschiedenen Nationen kommen) die beste Leistung herauszuholen, wo andere beim selben Orchester dies nicht so schaffen.
Als erstes erkennbar ist, dass Sir Simon seinen Beruf als Berufung versteht und mit allen Fasern lebt. Das heißt nicht, dass er 24 Stunden mit diesem Job verwachsen ist, er verfolgt sicher auch noch andere Interessen. Wie viele Führungskräfte hingegen leben ihre Führungsaufgabe wirklich und sehen sie nicht nur als einer Position zugehöriges „Übel“ oder schicken Ausweis eines Titels auf der Visitenkarte? Wie ist das bei Führungskräften mit der Trennung/Aufteilung von Arbeit und anderen Interessen? Zum Tanken verlässt man bekanntlich die Straße und fährt in die Tankstelle. Bei der Arbeit vergessen manche Führungskräfte (und nicht nur die) gelegentlich schon mal die Tankstelle, an der sie Energie aufnehmen können….
Auch ist es nicht so, dass Simon Rattle alle Instrumente, die Bestandteil eines Orchesters sind, selbst spielen kann. Er weiß aber, welches Instrument welche Klänge erzeugt und wann und in welcher Qualität diese gefragt sind (Simon Rattle dirigierte auswendig, ohne Partitur). Ansonsten vertraut und verlässt er sich auf das Spezialistenwissen und -können jedes einzelnen Musikers, welches er mit einem einzigen Blick während des Konzertes abrufen kann. Im Führungsalltag gibt es nicht wenige Führungskräfte, die glauben, der Chef müsse alles besser wissen. Sie verlassen sich mehr auf ihr eigenes Fachwissen (vermutlich hat sie diese Fachkompetenz auch in die jetzige Position gebracht) und vertrauen wenig auf die spezifischen Kompetenzen der Mitarbeiter. Diese spüren das, sehen sich vielleicht mehr in der Rolle des Erfüllungsgehilfen als in der Rolle des Mitgestalters und werden dann nicht alle ihre Ressourcen mobilisieren.
Jedes Orchestermitglied kennt seine Aufgaben genau. Allen ist bewusst, dass ein Erfolg nur in der optimalen Zusammenwirkung aller Musiker möglich ist, und dass dafür ein jeder sein Bestes geben muss. Natürlich ist jeder einzelne in der Lage, als Solist erfolgreich aufzutreten, im Konzert aber kommt es auf das Zusammenwirken und die Hintanstellung des Egos, auf die Gesamtleistung des Orchesters an. Jede schwache Leistung würde auffallen und das Gesamtbild trüben. Darüber wurde im Orchester sicher viele Male gesprochen, um das Bewusstsein eines jeden dafür zu schärfen. Inwieweit verbinden sich Menschen mit ihrem Unternehmen, fühlen sich dem Gesamterfolg der Firma verpflichtet? Fördert z.B. die Art der Leistungsbeurteilung das Zugehörigkeits-gefühl, die innere Bindung der Mitarbeiter? Oder verleiten die monatlichen Zahlenmeetings nicht eher dazu, nur auf den eigenen Vorteil zu achten? Gibt es gar „Fürstentümer“ in Ihrem Hause, die wenig oder gar nicht mit anderen Unternehmensteilen kooperieren?
Arbeiten Ihre Mitarbeiter*innen freiwillig für Sie?
Jedes Orchestermitglied kennt seinen Einsatz und kann auf den Blick des Dirigenten oder eine entsprechende Bewegung hin seine Leistung abrufen und einbringen. Klappt das in Ihrem Unternehmen auch so gut? Besonders hat mich die Mimik von Sir Simon Rattle beeindruckt: Der freundliche Gesichts-ausdruck, wie sich seine Gedanken und Gefühle zum Musikstück in seinem Gesicht widerspiegelten, und das Vertrauen, welches er mit einem einzigen Blick seinen Musikern zu Beginn des Musikstückes schenkte und der Dank sowie die Anerkennung, die am Ende aus seinen Augen sprachen. Vor allem mit den letztgenannten Blicken, so schien es mir, hat er die Musiker dazu gebracht, mit ihm und für ihn spielen zu wollen und nicht zu müssen, nur weil sie einen Vertrag mit dem Orchesterträger haben.
Auch an dieser Stelle ein Blick in Ihr Unternehmen: Wie viele Menschen arbeiten in und für Ihr Unternehmen, weil sie wollen, nicht (nur) weil sie müssen? Selbst wenn man das Bild realistisch betrachtet und unterstellt, dass es, wie auch in einem Orchester, nicht nur angenehme Arbeiten im Unternehmen zu erledigen gibt und deshalb die „Lustkurve“ variiert? Was tragen Sie und die anderen Führungskräfte dazu bei, dass die Menschen bei Ihnen sein wollen, oder, wie es das Mission Statement von Robert Dilts zum Ausdruck bringt: „To create a world to which people want to belong“, eine so beschriebene Welt in Ihrem Unternehmen existiert? Wie ist es mit nicht funktionalem Lob und Anerkennung bestellt? Dass es hier um eine Einstellung und nicht um eine Führungstechnik geht, habe ich in früheren Unternehmerbriefen schon dargelegt.
Beim gebürtigen Engländer Simon Rattle hatte ich den Eindruck, den ich auch schon bei einigen amerikanischen Führungskräften hatte: Er ist positiv den Menschen zugewandt, will spürbar mit ihnen arbeiten, glaubt an deren Können (und/oder kennt es) und vermittelt all dies glaubwürdig in Haltung und Verhalten. Die Menschen spüren das und wollen sich einbringen, reagieren wie gewünscht mit Leistungsbereitschaft, ohne dass Drohgebärden jedwelcher Art vonnöten sind (die mit hoher Wahrscheinlichkeit sowieso nur leistungs-mindernd wirken würden). Alle wissen, dass sie die von allen beabsichtigte Leistung nur gemeinsam erbringen können, und dass der Grad der Gemeinsamkeit auch die Qualität des Ergebnisses bestimmt.
Anerkennung: Am Ende eines Stückes ging Sir Simon zu dem oder den jeweiligen Solisten, dankte, gab ihnen die Hand und trat dann zu Seite, um sie – jetzt stehend – für das Publikum sichtbar werden und ihnen den ihnen gebührenden Applaus „ungefiltert“ zukommen zu lassen. Wie oft passiert in unseren Unternehmen, dass besondere Leistungen auch als solche gekennzeichnet werden und sich nicht irgendjemand mit fremden Federn schmückt? Nein, es geht nicht um die „Straße der Besten“, die in erster Linie funktional war, es geht um die Anerkennung, um der Person und deren individueller Leistung willen und nicht für einen bestimmten Zweck.
In vielen Coachinggesprächen erlebe ich hautnah, wie Menschen an den Rand ihres Leistungsvermögens und manchmal auch darüber hinaus gebracht werden (und sich bringen lassen) und andererseits vorhandene Ressourcen wie Freude und Engagement nicht abgerufen werden. Dabei kostet es – hier spricht jetzt der Schwabe – doch gar kein Geld, diese jedem Menschen mehr oder minder innewohnenden Ressourcen zu aktivieren – nur Aufmerksamkeit, Zuwendung, Klarheit (ich bin mir durchaus sicher, dass Sir Simon den Musikern sehr klar seine Vorstellungen übermittelt, dabei aber in der Formulierung um Zustimmung wirbt), und manchmal auch Geduld. Alles das kann jede Führungskraft so trainieren, dass es zu ihrer Persönlichkeit passt. Das möchte ich auch gerade erfahrenen Führungskräften empfehlen, denn dieser Lernprozess hört niemals auf, jeder kann immer noch besser werden.
Von der Art der Führung, die andere Führungskräfte, wie z.B. ein Dirigent praktizieren, kann jeder sich einige Anregungen für die eigene Führungsarbeit holen, ohne 1:1 kopieren zu müssen. „Abschreiben“ ist in diesem Fall erlaubt, wobei sich zur Persönlichkeit nicht passende Kopien schnell selbst entlarven. Selbstverständlich unterscheiden sich die Aufgaben eines Dirigenten bspw. von denen eines Geschäftsführers. Es geht darum, mit solchen Anregungen permanent die eigenen Führungskompetenzen auszubauen: Steter Tropfen höhlt den Stein. Und dabei wünschen meine Kollegen und ich Ihnen viel Spaß und Erfolg in 2012 und allen weiteren Jahren!
Herzliche Grüße
Ihr
Thomas Zimmermann