Vor kurzem wurde das „Wort des Jahres 2010“ gewählt, und es traf das der Kanzlerin zugeschriebene Adjektiv „alternativlos“. Ich möchte hier auf ein anderes Wort aufmerksam machen, das bislang noch nicht gewählt wurde und es wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren nicht schaffen wird, dennoch aber eine beachtliche Karriere hingelegt hat. Ich meine das Wort „Chaos“.
„Chaos“ ist heute alles, vor allem in den Medien. Spukt über Island ein Vulkan und bringt für ein paar Tage Flugpläne durcheinander: Chaos! Fallen mehr als zwei Schneeflocken und stören die Berliner S-Bahn beim Fahren: Chaos! Bleiben Koffer im Flughafen stecken, anstatt auf dem Förderband zu rollen … Sie ahnen es sicher. Die Schlange beim Bäcker, der Stau auf der Autobahn … alles wird zum Chaos hochgejazzt.
Woher kommt dieser leichtfertige Gebrauch eines so starken Wortes, das doch an sich – so die Definition – erst benutzt werden sollte, wenn es um einen Zustand vollständiger Unordnung gehen soll? Warum vor allem, so meine Frage, werden immer mehr Situationen des Alltags als „chaotisch“ (und damit oft überfordernd) empfunden? Wie hat eigentlich die Wiederaufbaugeneration das Nachkriegschaos
bewältigt?
Meine These: Woran es mangelt, ist die Fähigkeit (und manchmal auch der Wille), sich auf Ausnahmen einzulassen.Vor lauter Regeln haben wir ein Talent verloren, nämlich mit der Ausnahme angemessen
und zielführend umzugehen. Wobei es doch angesichts der raschen Veränderungen und weit verzweigter Netzwerke überall (nix is fix) Prozessroutinen zunehmend schwieriger haben, sich zu etablieren: Kaum sind sie definiert, sind sie oft auch schon wieder hinfällig. Daraus lässt sich der Schluss ziehen: Die
Ausnahmen sind die Regel und die Routinen eher die Ausnahmen! Organisationen und Unternehmen sind deshalb aufgefordert, ihre Mitglieder zur Bewältigung von (ständigen) Ausnahmesituationen zu befähigen!
Chaos versus Regeln
Beginnen wir die Betrachtung unseres Themas zuerst definitorisch: In welchem Zusammenhang stehen Ausnahme und Regel? Ausnahmen machen auf Umstände oder Ereignisse aufmerksam, die die Regel nicht erfasst hat (wobei es zumindest im Geschäftsleben keine Regel geben dürfte, die alle Ausnahmen bereits mit erfasst). Regel und Ausnahme erklären sich gegenseitig, „keine Regel ohne Ausnahme“ heißt das Sprichwort und findet seine Bestätigung in der Philosophie: „Die Ausnahme erklärt also das Allgemeine und sich selbst, … Die (Ausnahme) legt alles viel deutlicher an den Tag als das Allgemeine
selbst“ (Soren Kirkegaard, Furcht und Zittern/Die Wiederholung, Jena 1923, zitiert nach wikipedia). „So, wie im Normalfall das selbständige Moment der Entscheidung auf ein Minimum zurückgedrängt werden kann, wird im Ausnahmefall die Norm vernichtet“ (Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin 2004, zitiert
nach Wikipedia). Die Ausnahme zeigt also die Grenzen der Regel auf.
Warum fällt es vielen Menschen schwer, mit Ausnahmesituationen ange-messen umzugehen? Bei der Beantwortung dieser Frage gilt es, zwei Stränge zu verfolgen: Zum einen die Menschen mit ihrer Biographie, Dispositionen, Glaubenssystemen und dem daraus resultierenden Können und Wollen und zum anderen die Organisationen mit ihren Vorgaben, Strukturen und Kulturen.
Chaos stört das Sicherheitsbedürfnis
Betrachten wir zunächst einmal die Menschen. Die meisten Menschen haben ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis und vermeiden folgerichtig Situationen, die mit (allzu großer) Unsicherheit belegt sind. Gewohnheiten, Vorschriften, Routinen etc. reduzieren nicht nur für sie die Komplexität des Alltags und helfen, die noch freien Ressourcen für die Bewältigung der verbleibenden Herausforderungen einzusetzen. Routinen verleihen neben Sicherheit auch Verlässlichkeit: So war es früher, so ist es heute und auch morgen kann ich bei Anwendung der Routine mit vorhersehbaren Ergebnissen rechnen. So können Routinen auch Prozesse sichern und/oder beschleunigen und optimieren, was ja durchaus oft erwünscht ist (z.B. Feuerwehr, Polizei usw.). Tritt nun eine Ausnahme ein und irritiert den Menschen, so versucht er zunächst, die Ausnahme nach Möglichkeit passend zu einer ihm geläufigen Routine umzudeuten, um sie dann mit bewährten Methoden bewältigen zu können. Gelingt es, um so besser, gelingt es nicht, wird es jetzt schwierig.
Unternehmen und Organisationen sind oft darauf angewiesen, Leistung immer wieder in immer gleicher Menge und Qualität zu (re)produzieren. Dafür bedarf es festgelegter Abläufe: Wer beispielsweise Autos produziert, muss sicher sein, dass am Ende der Kette auch wirklich ein Auto nach definierten Maßstäben aus dem Produktionsprozess herauskommt. Wer Steuerbescheide erstellt, will und muss sicherstellen, dass bei vergleichbaren Steuerschuldnern vergleichbare Bescheide erlassen werden, schon allein aus Gründen der Gerechtigkeit und der Gesetze. Dafür braucht es Regeln und Vorgaben, die von allen Beteiligten gleichermaßen verstanden und angewendet werden. Ganze Heerscharen von Organisationsspezialisten
kümmern sich darum, Prozesse zu entwicklen und Prozessabläufe in Organisationen zu etablieren. Manchmal wird in diesem Bemühen auch die Organisation der gewünschten Routine angepasst (z.B. bei der Einführung einer neuen Software). In fortgeschrittenen Systemen berücksichtigt man natürlich durchaus mögliche Störungen und überlegt Prozesse, wie mit diesen im Falle ihres Eintretens (standardisiert, natürlich) umzugehen ist. Dumm nur, wenn sich Störungen nicht an die ihnen zugedachte Art und Wirkung halten, sondern sich außerhalb der Störungsregeln bewegen …. denn es ist nicht jede Möglichkeit von vornherein zu erfassen! Wer hat nicht schon die Erfahrung gemacht, dass der Mensch sich dem System (und nicht umgekehrt) anpasssen muss und andernfalls sein Anliegen abschreiben kann? Solange man sich system-konform verhält, funktioniert meist alles, aber wehe, es kommt auch nur zu geringsten Abweichungen … Im besten Fall landet man als Problem bei einem help desk, der seinem Namen auch nicht immer gerecht wird.
Es geht hier nicht darum, Routinen zu verurteilen oder gar abzuschaffen, sondern anzuregen, Menschen dazu zu befähigen, mit Störungen und Unvorhersehbarem ziel- und organisationsorientiert umzugehen: Wie kann z.B. unternehmesseitig jemand agieren, wenn der Koffer des Fluggastes plötzlich verschwunden ist, wenn der Fahrer eines Mietwagens unbedingt einen Getränkehalter in seinem Fahrzeug haben will (was außerhalb der Routine ist), wenn der Zug zu spät ist, aber der Reisende dringend einen wichtigen Termin einhalten muss u.v.m.? Das sinnvolle und möglichst kundenorientierte Verhalten in solchen Situationen kann für die Organisation weitreichende positive Folgen haben: Die Beherrschung der Ausnahme zur Zufriedenheit des Kunden ist ein unschätzbarer Wettbewerbsvorteil! Die erfolgreiche Bearbeitung der Ausnahme zeigt Kompetenz und Kundennähe!
Warum fällt es dann Menschen und Organisationen manchmal schwer, mit Ausnahmen gut umzugehen? Die Erfahrung vieler Menschen lässt sich auf folgende Aussage zuspitzen: Alles, was nicht erlaubt ist, ist verboten. Wann wurden wir schon mal gelobt, wenn wir uns neben der Spur bewegten oder ein abweichendes Problemlöseverhalten wagten (und dies am Ende vielleicht nicht erfolgreich war)? Wie oft tun daher MitarbeiterInnen lieber nichts, weil sie nichts falsch machen wollen? Wie oft wird in Organisationen, auch und gerade von MitarbeiterInnen, nach Vorschriften und Anweisungen gerufen, die für sie Verhaltenssicherheit schaffen sollen? Und sind sie da, beschweren sich später viele über diese einschränkenden Vorschriften. Regelwerke, so nützlich sie oft sind, können nämlich auch ein gutes Instrument sein, um Eigenverant-wortlichkeit zu reduzieren und Flexibiltät zu zerstören. Selbst diejenigen, die mit Ausnahmen gut umgehen können und wollen, sehen sich oft Grenzen gegenüber: Entweder haben sie keine Zeit oder keine Entscheidungsmacht oder resignieren aufgrund schlechter Erfahrungen. Häufig sind auch die Ressourcen wie Zeit, Maschinen, Geld und vor allem das Personal so knapp, dass gerade der Normalbetrieb geschafft wird, und für die Ausnahme ist dann keine Kapazität mehr frei. Diese werden dann von den Engagierten in Überstunden bearbeitet, und die weniger Engagierten versuchen es mit Ignorieren oder Aussitzen. Die Gefahr, Kunden zu verlieren um dann mit mehr Aufwand, als das Beherrschen der Ausnahme gekostet hätte, neue gewinnen zu müssen, wird nicht erkannt.
Konstruktiver Umgang mit Chaos in Organisationen
Was also würde MitarbeiterInnen, Führungskräften und Organisationen helfen, mit Ausnahmen routinierter und zielorientierter umzugehen und so über den Wettbewerbsvorteil der beherrschten Ausnahme Kunden zu binden und neue zu gewinnen? Was würde das kontextbezogene Denken zu Lasten
des generalisierenden Denkens („da könnte ja jeder kommen …“) fördern?
Mitarbeitern würde u.a. folgendes helfen: Grundsätzliches Denken in Möglichkeiten und erst in zweiter Linie in Unmöglichkeiten. Des weiteren bedarf es des Selbst-Bewusstseins und Selbstvertrauens. Solche
Eigenschaften sind natürlich in erster Linie in einer Person angelegt, entsprechendes Führungsverhalten kann hier fördernd und unterstützend wirken. Des weiteren bedarf es Mut zu handeln: Dieser Mut wird sich dort entwickeln, wo die Agierenden zumindest ein Grundmaß an Gewissheit haben, im Sinne ihrer Organisation zu handeln und eigenverantwortliches Handeln auch wirklich gewünscht ist. Das setzt voraus, dass sie die Gesamtzusammenhänge zumindest rudimentär und die Ziele der Organisation kennen und verstanden haben und dass sie die Erlaubnis haben (durchaus auch mit Grenzen), zu handeln (Empowerment). Wo das Einhalten von Vorschriften höher bewertet wird als das Handeln im Kunden- und Organisationsinteresse, wird sich keine Erlaubniskultur bilden. Diese Erlaubnis muss ausgestattet werden, z.B. mit Befugnissen und/oder Geld. Eine ausgeprägte Kundenorientierung unterstützt ebenso wie die Erfahrung aus der Bewältigung schwieriger Situationen.
Auch den Führungskräften würde bei der Schaffung einer Kultur der Ausnahmenbewältigung diese den Mitarbeitern zugeordneten Punkte helfen. Dazu würde treten:
– Vertrauen in die Mitarbeiter zu haben und zu leben. Das bedeutet für manch einen eine
gewaltige Einstellungsveränderung.
– Freiräume mit den Mitarbeitern abzustecken und zu gewähren.
– Controlling der Bearbeitung von Ausnahmefällen und initiieren von Lernprozessen.
In den Organisationen gilt es,
– eine Fehlerkultur zu schaffen, die Lernprozesse aus Misslungenem initiiert.
– Ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Ausnahmen häufig die Regel sind und dass es gilt, gerade diese erfolgreich zu bewältigen,
– Auch und trotzdem Notfallpläne zu schaffen, um mögliche Schäden aus misslungenen Ausnahmebehandlungen abzufedern bzw. zu regulieren und so dem Sicherheitsbedürfnis ein wenig zu entsprechen,
– Nicht der Versuchung zu erliegen, alles und jedes mit Regeln und Vorschriften zu versehen, sondern eine Erlaubniskultur zu installieren.
Es ist mir völlig klar, dass die Handlungsfreiheiten je nach Organsiation unter-schiedlich groß sind. In einer Behörde werden sie vermutlich enger gefasst sein als in einem Unternehmen. Aber auch dort kommen Ausnahmen und Abweichungen von den Regeln vor, auch dort müssen sie so bearbeitet werden,
dass es nicht nur gut für den Kunden, sondern auch für die Organisation ist. Ebenso ist mir klar, dass man, wie es im Schwäbischen heißt, „nicht den Hund zum Jagen tragen kann“. Wer also nicht die die Veranlagung, das Interesse und die Bereitschaft hat, sich mit Ausnahmesituationen auseinanderzusetzen und diese zu bewältigen, wird nur schwer zu einer Einstellungs- und Verhaltensänderung kommen. Wendet man sich vor allem an die Willigen und Fähigen (und davon gibt es viele), können wir einen Sogeffekt erzeugen und die Vorteile, die daraus resultieren, wenn Ausnahmen genauso routiniert bearbeitet
werden wie Regeln, nutzen: Aufwertung und erhöhte Arbeitszufriedenheit bei den MitarbeiterInnen (die eben dadurch, dass sie Ausnahmen erfolgreich beherrschen, Sicherheit gewinnen), erhöhte Zufriedenheit und Bindung bei den Kunden, Flexibilität in der Organsiation.
Wenn Sie erwägen, in Ihrer das Beherrschen der Ausnahme zur Regel machen zu wollen, sprechen Sie uns an!
Viele Grüße
Ihr
Thomas Zimmermann