Vom richtigen Zeitpunkt

Vom richtigen Zeitpunkt

„Kein Pfarrer hat es gerne, wenn sein Vorgänger weiter im Pfarrhaus wohnt.“ So der Theologe Hans Küng zur historischen Entscheidung von Benedikt XVI., vom Amt des Papstes zurückzutreten und seinen Lebensabend künftig in einem Kloster in den Vatikanischen Gärten und damit in Sichtweite zu seinem Nachfolger zu verbringen.

So kann man es natürlich auch sehen.

Über die Entscheidung des Mannes, der sich selbst als „einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn“ sah, ist viel geschrieben worden. Eine Mehrheit, zu der ich mich zähle, bewundert und respektiert diesen mutigen Schritt, die Position der Minderheit lässt sich mit dem Zitat eines polnischen Kardinals zusammen-fassen: „Man steigt nicht vom Kreuz herab.“

Mich interessiert ein anderer Aspekt dieses Schrittes: Wann ist der richtige Zeitpunkt für einen bedeutenden, für einen wichtigen Schritt?

Wann ist der richtige Zeitpunkt, beispielsweise für

  • die Kritik an einem Mitarbeiter?
  • das Fällen einer Prozess- oder Investitionsentscheidung?
  • dafür, einem relevanten Kunden ein wichtiges Angebot vorzulegen?
  • das Eingeständnis, in einer Sache versagt zu haben?
  • das Räumen eines Amtes und den Rückzug ins Private?

So wie wir Josef Ratzinger als Benedikt XVI. – ich komme auf ihn zurück – in den letzten Jahren haben erleben können, wird er die Gründe für seinen Schritt allenfalls einem sehr kleinen und sehr verschwiegenem Kreis offenbart und vielleicht sogar beraten haben. Ebenso werden wir wohl nie wissen, wann genau er diese Entscheidung gefällt hat. War sie Ergebnis eines Prozesses oder eines Ereignisses? Klar ist nur, dass er völlig mit sich im Reinen war, als er seinen Kardinälen und der Weltgemeinschaft seinen Rückzug verkündete.

Mit Chronos bezeichneten die Griechen die Zeit, die vergeht und die man messen kann, und daher auch die Bezeichnung Chronometer für das bekannte Messinstrument. Der Begriff Kairos steht für die günstige Gelegenheit, den richtigen Zeitpunkt, besonders für eine Entscheidung. Früher – und vielleicht auch noch heute – bemühten manche Mächtige eine Schar von Astrologen und Wahrsagern (die gibt es heute, getarnt als Experten, auch noch), um genau diesen richtigen Zeitpunkt zu bestimmen, und oft soll es auch geholfen haben. Getrieben war dieses Vorgehen von dem Wunsch, Ungewissheit zu reduzieren, alles richtig zu machen und so Erfolg zu haben. Alles sehr verständlich. Nur: Erst hinterher ist man schlauer, weiß man, ob es wirklich der richtige Zeitpunkt war: Soll ich jetzt tanken, oder ist das Benzin morgen günstiger?

Schwaben wie mich quälen solche Fragen, ich treffe eine Entscheidung unter großer Unsicherheit und hoffe jetzt, völlig unsolidarisch mit den anderen Autofahrern, dass es nach meinem Tankvorgang nicht noch billiger wird. Erst dann kann ich sagen: Es war der richtige Zeitpunkt zu tanken. Ich muss mit vielen mir unbekannten Faktoren wie z.B. die Bewegungen im Rotterdamer Markt, Entscheidungsprioritäten in den Mineralölkonzernen usw. rechnen. Der richtige Zeitpunkt ist also mit einem gewissen Maß an Unsicherheit verbunden und kann nicht immer (eigentlich nie) richtig vorausberechnet werden. Und hinter der Suche nach dem angeblich richtigen Zeitpunkt verbergen sich beim einen oder anderen nicht selten Entscheidungsschwäche und Angst, wie auch die Ungewissheit hinsichtlich der Konsequenzen der Entscheidung. Nicht von ungefähr wird in der Psychologie die Angst, Entscheidungen zu treffen, als Kairophobie bezeichnet.

Sind „richtige“ Entscheidungen möglich?

Auch in unserer hochkomplexen und globalisierten Zeit möchten alle Erfolg haben und meinen, dafür möglichst alles richtig machen zu müssen. Die Realisierung dieses Wunsches ist jedoch immer schwieriger geworden, da die zu berücksichtigenden Faktoren sowohl zahlreicher wie auch komplexer wurden. Logisch-mathematische Herangehensweisen können Unsicherheiten entdecken und bis zu einem gewissen Grad eliminieren (besonders, wenn es um Geld geht), den absolut richtigen Zeitpunkt (richtig unter welchen Gesichtspunkten?) können sie meist nicht bestimmen. Ein schönes Bild ist der Hochfrequenzhandel an der Börse: Wenn wir die Kurse sehen, stimmen sie schon nicht mehr. Der Papst hat in seinem Leben viel und auch weitreichende Entscheidungen getroffen und wusste sicher, dass sich der richtige Zeitpunkt für die Verkündung einer Entscheidung, so dass sie überall die gewünschte Wirkung auslöst, letztlich nicht bestimmen lässt. Er hat sich seine

Entscheidung auch sicher nicht leicht gemacht und zuvor zahlreiche Aspekte berücksichtigt, ohne (vermutlich) mathematische Berechnungen anzustellen oder gar astrologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich nehme an, dass er zunächst einen Faktenrahmen gesetzt hat und dann die Entscheidung seinem Gefühl und seiner Intuition überlassen hat. Er hat damit auch Mut bewiesen, denn dass seine Entscheidung die Kirche in eine ungekannte Situation versetzt und nicht überall auf Wohlwollen stoßen wird, war ihm sicher klar. Er hat vermutlich zu einem Zeitpunkt gehandelt, als er alle ihm zugänglichen pro und contra abgewogen hatte und die Restunsicherheit für tolerabel hielt. Der Prozess war demnach vermutlich zweigeteilt: Datengewinnung (ratio) und Umsetzung zu einem Zeitpunkt, der ihm von den äußeren Gegebenheiten günstig erschien und zu dem er selbst die Kraft hatte, seine Entscheidung zu verkünden (emotio, kairos).

Wenn es um Entscheidungen geht, die Menschen – im Führungskontext also Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen – betreffen, sind mathematisch-logische Herangehensweisen nicht immer hilfreich. Geht es um Fristen oder bspw. weitreichende finanzielle Zusagen, haben diese durchaus ihre Berechtigung. Geht es aber um „weiche“ Themen wie Lob oder Kritik, Ertüchtigung zu Veränderungsprozessen oder fördern einer lang anhaltenden Leistungsbereitschaft, treten Gefühl und Intuition in den Vordergrund. Diese unter-stützen dann auch die Authentizität Ihrer Handlungen. Der Kalendereintrag: „Freitag 12.00 Uhr Herrn Müller loben“ mag ja gut gemeint sein, weckt beim Mitarbeiter bei der terminierten Ausführung aber vermutlich keine positiven Gefühle, sondern vor allem den Verdacht, dass er demnächst mit einer eher unangenehmen Aufgabe belastet werden soll. Wann sind also die richtigen Zeitpunkte für Lob und Kritik, Zuspruch, Bekanntgabe von für den Mitarbeiter unangenehmer Nachrichten, der richtige Zeitpunkt um den wichtigen neuen Kunden anzusprechen?

Ungewissheit ist Bestandteil einer jeden Entscheidung

Wie immer gibt es hier keine Regel, aber einige Hinweise. Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt zur Erreichung des Zieles ist ja auch eine Frage des Egos, getragen von der Absicht, für einen selbst den maximalen Erfolg im Kontext zu erreichen. Selbst altruistisch anmutende oder so vorgetragene Argumente („Ich will ja nur das Beste für den Kunden bzw. den Mitarbeiter“) sind vom Wunsch nach einer persönlich positiven Wirkung im betreffenden Kontext bestimmt: Menschen tun nur etwas, wenn sie etwas davon haben. In die gleiche Richtung zielt in diesem Zusammenhang der Wunsch, nichts falsch zu machen, also möglichst alles richtig. Das kann dann zu Zögern und Zaudern führen, da die Entscheidung: „Jetzt mache ich es“ nicht getroffen wird, wobei doch bekanntlich jede Entscheidung mit Unsicherheit verbunden ist.

Leichter haben es die Menschen, die akzeptieren, dass es die absolute Sicherheit und Gewissheit nicht gibt. Auch sie werden nach dem günstigen Zeitpunkt suchen, dann aber auch unter Ungewissheit handeln – und sehen, was sie davon haben. Die Suche nach dem richtigen Zeitpunkt kann erleichtert werden, wenn man sich in die Situation des/der anderen versetzt:

  • Was ist die augenblickliche Situation der anderen Seite?
  • Was benötigt die andere Seite inhaltlich, um zu akzeptieren? Wann ist sie aufnahmebereit?
  • Welchen Rahmen/Kontext benötigt die andere Seite, um zustimmen zu können? Unter welchen Bedingungen ist sie aufnahmebereit?
  • Wie ist es um die Qualität meiner Wahrnehmungen und Vermutungen bestellt?
  • Was sind meine Bedenken im gegebenen Kontext, wie realistisch sind sie, wie wirken sie auf mich, wie kann ich damit konstruktiv umgehen?
  • Wann habe ich selbst die Kraft, die Entscheidung kund zu tun bzw. umzusetzen? Was brauche ich dafür?

Wichtig ist auch, selbst in einer der Entscheidung angemessenen Stimmung zu sein: Die Entscheidung muss sich zum Zeitpunkt des Treffens „gut anfühlen“. Es ist hilfreich, wenn der Entscheider in diesem Moment selbst das Gefühl hat, dass die Entscheidung jetzt richtig und angemessen ist. Vielleicht kennen Sie auch das Gefühl, dass Sie bspw. eine private Anschaffung tätigen wollen oder müssen, sich aber für keine Alternative begeistern können. Zu einem anderen Zeitpunkt hingegen fällt es Ihnen leicht, eine absolut zufriedenstellende Entscheidung zu treffen. Bedauerlich ist, dass man im Geschäftsleben oft nicht die Zeit hat (oder glaubt, sie nicht zu haben!), auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Womit der Aufschieberitis übrigens nicht das Wort geredet werden soll!

Warum also eine gute Entscheidung schwächen, nur weil man zur Ausführung einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt hat? Bearbeitet eine Führungskraft ernsthaft solche und ähnliche Fragen, wird sie nicht nur einen günstigen Zeitpunkt finden, sondern ihren Handlungen mehr Wirkung verleihen. Es wird ihr nicht passieren, dass sie auf Ablehnung stößt, nur weil der Zeitpunkt nicht stimmte und deshalb Mitarbeiter demotiviert werden: Wer verträgt schon eine weitere – wenn auch berechtigte – Kritik, wenn gerade ein wichtiger Auftrag vom Wettbewerb weggeschnappt wurde? Wie wirkt ein Lob auf den Mitarbeiter, wenn in dessen privatem Umkreis sich aktuell die Katastrophen mehren oder der Anlass des Lobes Tage und Wochen zurückliegt? Was bewirkt die Ankündigung eines Change Programmes, wenn gerade Kündigungen im Betrieb ausgesprochen wurden und sich die Belegschaft intensive Sorgen um den Arbeitsplatz machen?

Um den richtigen, den günstigen Zeitpunkt zu ermitteln, helfen also

  • Kontextinformationen,
  • Einfühlungsvermögen und

Die Kontextinformationen bedienen den rationalen Teil und sorgen für Wissen, das Einfühlungsvermögen steuert den emotionalen Teil bei, gibt der Anwendung der Kontextinformationen die persönliche Wirkung und das Gespür für den richtigen Zeitpunkt der Umsetzung. Der Mut sorgt dafür, dass eine Entscheidung nicht nur getroffen, sondern auch umgesetzt wird.

Ich wünsche Ihnen bei allen Entscheidungen, den richtigen Zeitpunkt und den Mut für die Umsetzung zu finden und gelegentliches Scheitern als Lernhinweis zu verstehen. Wenn Sie Ihre Entscheidungen vorab spiegeln und reflektieren wollen – Sie wissen ja, wo Sie uns finden.

Das Team von synthesis und ich wünschen Ihnen ein schönes Osterfest!

Herzliche Grüße,

Ihr

Thomas Zimmermann

 

Zum Thema Entscheidung noch eine Anekdote:

Ein Journalist fragte den erfolgreichen Wirtschaftskapitän, wie er Vorstands-vorsitzender geworden sei. Dessen knappe Antwort: „Zwei Worte: Richtige Entscheidungen“.

Der Journalist hakte nach: „Aber wie haben Sie gelernt, richtige Entscheidungen zu treffen?“ Dessen ebenso knappe Antwort: „Ein Wort: Erfahrung“. „Ja, aber wie sammelten Sie diese Erfahrung?“

„Zwei Worte: Falsche Entscheidungen“.

entnommen aus: Zweifel/Raskin, Der Rabbi und der CEO