Schein ja, aber heilig? Frohe Weihnachten!
Bevor uns die kommende Vorweihnachtszeit alle etwas milder werden lässt, muss ich etwas Bitterkeit verströmen. Muss ich? Ja ich muss!
Das Jahresende ist in vielen Fällen der Zeitpunkt, wo wir (wie Sie vielleicht auch) mit unseren Kunden über die Vorhaben für das kommende Jahr sprechen und, je nach vertraglichen Absprachen, auch über das künftige Honorar. Solche Gespräche sind nicht immer angenehm, schließlich geht es ums Geld und das behält man doch lieber für sich. Es erfordert Geschick und Beweglichkeit auf beiden Seiten: Wir wollen die Möglichkeiten des Kunden nicht überfordern und dennoch eine unserer Leistung angemessene Bezahlung erreichen. Die Kundenseite wiederum wünscht eine sehr gute Leistung bei maximaler Budgetschonung. Alles nachvollziehbar und verständlich und vor allem verhandelbar.
In diesem Jahr habe ich etwas erlebt, was mir in dieser Form noch nie wider-fahren ist: Jegliche Argumentation zu Qualität, langjähriger Zusammenarbeit, punktgenauer Interventionen aufgrund sehr guter Organisationskenntnisse, Befriedigung sehr spezieller Bedarfe der Organisation und der MitarbeiterInnen, Mehrleistungen ohne Berechnung etc. wurden von Kundenseite vom Tisch gewischt mit einem Argument: Die Zahlen müssen stimmen, und wie „stimmen“ aussieht, legt allein die Kundenseite fest. Einzig und allein der Preis entscheide, alles andere spiele keine Rolle, Punkt. Obwohl mir solche Argumentationen und deren negativen Konsequenzen für die Personen und Organisationen, die so argumentieren (siehe frühere Unternehmerbriefe), durchaus bekannt sind, war ich einigermaßen geschockt. Zahlen sind aus vielerlei Gründen wichtig, ohne Zweifel, sie als alleinigen Maßstab zu benutzen, ist nicht nur kurzsichtig, sondern blind. Ich dachte immer, wir wären in den Unternehmen schon weiter (Gott sei Dank sind wir es auch bei einigen). Letztlich, und das wurde mir dann klar, habe ich in diesem Gespräch nur das erfahren, was die Mitarbeiter dieses Kunden in den Gesprächen mit ihren Auftraggebern immer wieder selbst erfahren. Anders gesagt: Druck wird einfach weitergegeben und zwar von oben nach unten. Und in den Verhandlungen und der Zusammenarbeit mit deren Kunden geht es noch einen Zacken schärfer zu: Sie treffen mit ihren Kunden Rahmenverein-barungen mit Preisabsprachen, und bei der Abrechnung werden entgegen den Vereinbarungen weitere Preisnachlässe gefordert, wolle man einigermaßen pünktlich das Geld bekommen. Fordern sie dann die Einhaltung der getroffenen Rahmenvereinbarung (z.B. Zusagen zu einem bestimmten Auftragsvolumen) ein, werden sie gefragt, ob sie diese Forderung wirklich ernst meinten und an einer weiteren Beauftragung interessiert seien usw. Vielleicht kennen Sie das ja auch aus eigenem Erleben.
Soweit so gut bzw. so schlecht.
Jetzt geht es mir – man verzeihe es mir, dass ich ausgerechnet zur milden Vorweihnachtszeit darauf zu sprechen komme – um Moral und Befinden. Um Schein bzw. um Scheinheiligkeit. Scheinheiliger die Glocken nie klingen!
Denn wie gehen die Menschen mit solchen Situationen und Gegebenheiten um, damit, dass man sich auf nichts mehr verlassen kann, dass ständig das individuelle Gerechtigkeitsgefühl verletzt, getreten wird, dass der Mensch als Mensch diskreditiert und die Leistung schlecht gemacht wird nur, um Nach-lässe herauszuschinden und bei den Zahlen selbst besser dazustehen? Wie vertragen sich solche Zustände eigentlich mit den von den Unternehmen veröffentlichten Hochglanzbroschüren, die über den guten Umgang unter-einander, die gleiche Augenhöhe mit Lieferanten und Kunden, die offene Kooperation und Kommunikation im Unternehmen und ähnliches schwadronieren? Deren hehre Sprüche einen morgens schon im Eingangs-bereich der Firma überfallen (noch schlimmer: Als Startbild auf dem Bildschirm) und an die sich kaum einer hält? Wie leben die Menschen in dieser Scheinwelt zwischen gelebter Realität und den oft nicht gelebten Ansprüchen der postulierten Unternehmenskultur? Und das über 30 oder 40 Arbeitsjahre hinweg? Wie lange können sie in dieser unheiligen Scheinwelt der schleichenden Deformation Ihres eigenen Wertesystems Widerstand entgegensetzen, wann kommen Anpassung oder Resignation, innere Kündigung, Dienst nach Vorschrift, Krankheit? Die Krankenkassen melden regelmäßig jedes Jahr signifikante Zuwächse bei psychischen Erkrankungen, ich ahne, woher das wohl rühren mag.
Nun kenne bzw. kannte ich meine Gesprächspartner im vorgenannten Falle viele Jahre und nicht nur aus solchen Verhandlungen und wusste, dass sie selbst diesem Zahlenfetisch nicht zustimmen, sondern in erster Linie Anordnungen verfolgen, von denen sie (das ließen sie durchaus durch-schimmern) selbst nichts halten. Aber als pflichtbewusste Teile der Organisation und im Sinne von „cover your ass“ haben sie die Anordnungen durchgeführt, so weit so gut (oder schlecht).
Menschen suchen Sinn in und für ihr Leben. Der Sinn ist eng gekoppelt mit dem persönlichen Wertesystem, das jedem Menschen in Teilen mitgegeben wird und zu dem er sich in seinem Leben die weiteren Teile durch Erfahrung, Reflektion und auf anderen Wegen erarbeitet. Wir unterscheiden hier zwischen allgemeinen Werten , die für alle gelten (z.B. 10 Gebote, Traditionen, Rituale etc.), weiteren individuellen Werten, das sind allgemeine Werte, welche die Person für sich auswählt, weil diese für sie besonders bedeutungsvoll sind, sowie personale Werte. Letztere erspürt der Mensch durch sein Gewissen: Eine Situation oder ein Verhalten z.B. „lässt sich mit dem Gewissen (nicht) vereinbaren“, weshalb der Mensch (nicht) entsprechend handeln kann oder nur unter großen Gewissensqualen handelt. Dieses Wertesystem gibt dem Individuum nicht nur Auskunft darüber, was für die Person in welchem Maße wichtig ist, sondern bestimmt auch, was als „richtig“ oder „falsch“ zu bewerten ist und vermittelt so Sicherheit. Deshalb hat man, wenn man etwas erlebt oder für etwas gefordert wird, das nicht mit dem Wertesystem und insbesondere den personalen Werten vereinbar ist, das Gefühl, es zerreiße einen. Umgekehrt ist es so, dass die Person, die im Einklang mit ihren Werten arbeiten und leben kann, stabiler und zufriedener und weniger anfällig für psychische Probleme ist. In Situationen, in denen von jemand etwas verlangt wird, was sich gegen das persönliche Wertesystem richtet, leidet der Mensch an der Dissonanz und sieht auch für sich keinen Sinn mehr z.B. in der Arbeit, der Sinn und damit die Verbindung geht ihm verloren. In Unternehmen arbeitet der Mensch natürlich weiter, aber bei weitem nicht mit der Kraft und dem Elan und der Kreativität, die möglich wären. Für die Zahlenmenschen: Das heißt, Sie bezahlen diesen Menschen mehr, als dass Sie an Leistung zurückbekommen.
Sinnhaftigkeit ist für die Menschen also wichtig, sollen und wollen sie gute Leistungen erbringen. „Als wir das Ziel aus den Augen verloren hatten, haben wir unsere Anstrengungen verdoppelt“. Dieses Zitat von Mark Twain kann ich aus den Erfahrungen im Unternehmensalltag wie folgt umformulieren: „Als wir den Sinn in der Arbeit verloren hatten, haben wir unsere Leistung halbiert“. Da wir aber weiterhin Sinnsuchende bleiben, forschen wir im Umfeld außerhalb des Arbeitsplatzes und finden da oft mehr Sinn, als uns der Arbeitsplatz bietet. Die Arbeit wird dann zur reinen Erwerbsquelle, und die Energie geht in den außerhalb des Arbeitsplatzes gefundenen Sinn. So entsteht die einst von Helmut Kohl so bezeichnete „freizeitorientierte Schonhaltung“ am Arbeitsplatz.
Wann geht der Sinn z.B. am Arbeitsplatz für viele Menschen verloren, was trägt zum Verlust bei? Beispiele:
- Krisen, wo Bekanntes keinen Wert mehr hat, woraus zumindest zeitweilig Orientierungslosigkeit resultiert und die Suche nach einem neuen Pfad angesagt ist;
- Handeln gegen das eigene Wertesystem;
- fehlende Verbindung zur Tätigkeit (ich bin mit dem, was ich tun soll, nicht verbunden);
- als sinnlos empfundene Tätigkeiten (entweder sind sie es oder die Person hat den Sinn nicht verstanden);
- wenn der größere Zusammenhang nicht verstanden wird;
- wenn sich der Mensch als Mensch übersehen fühlt etc.
Beliebte Mittel zur Kompensation von Sinnverlust sind beispielsweise Geld, Karriere und/oder Titel, besondere Vergünstigungen und dergleichen mehr. Zunächst hilft das in vielen Fällen auch, aber irgendwann wird fast jeder mit Fragen wie die folgenden konfrontiert: Warum, wofür mache ich das eigentlich alles? Was gibt, wie ich lebe und arbeite, mir wirklich, ist es das, wie und wofür ich leben möchte?
Schwierige Fragen, ohne Zweifel, und sie gehen über den Arbeitsbereich weit hinaus. Besonders unter Druck stehende oder mutige Menschen oder solche, auf die beides zutrifft, entscheiden sich dann für einen neuen Weg, „steigen aus“ und das Umfeld wundert sich dann, wie man einen so schönen und gut bezahlten Job „grundlos“ aufgeben kann. Ein solcher Ausstieg ist aber auf-grund fehlender persönlicher Kompetenzen oder auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht allen möglich. Von diesen wechseln die einen ins innere Exil, die anderen in die innere Kündigung und die dritten in die psychische Erkrankung. Alles Wege, die Unternehmen Geld kosten, die man aber so nicht sieht.
Was kann man tun? Hier nur erste Hinweise:
- Indem alle den Fokus auf die reale Welt im Unternehmen legen: Wie wird miteinander umgegangen, miteinander gesprochen; inwieweit folgen Worten angemessene Taten, wie können wir unsere Unter-nehmenswelt so gestalten, dass sich möglichst viele möglichst wohl darin fühlen? „Unser Problem ist nicht zu wenig Kommunikation, sondern zu wenig Begegnung!“, sagt der Logotherapeut und Existenzanalytiker Dr. Christoph Kolbe aus Hannover.
- Indem Sie die Maßnahmen für die Mitarbeiter wie Obstkorb, freie Getränke, variable Arbeitszeit etc. „ehrlich“ machen. Allzu oft habe ich den Eindruck, dass diese Wohltaten nicht der Wertschätzung der Organisation für die Mitarbeiter zuzurechnen, sondern eher und nur der Produktivitätssteigerung geschuldet sind.
- Indem Sie der Sinnfrage und dem gelebten Wertesystem im Unter-nehmen mit möglichst vielen Beteiligten einmal nachspüren: Wofür stehen wir, was ist unser Beitrag zum Weltgeschehen? Was ist unsere Mission? Welche Werte postulieren wir, und wie leben wir diese?
Das Weihnachtsfest ist, so glaube ich, das Fest im Jahreslauf mit der höchsten Scheinheiligkeitsquote. Propagiert wird es als Fest der Liebe, der Vergebung, der Nähe und zwischenmenschlichen Begegnung usw. Gelebt wird oft etwas anderes: Nicht von ungefähr gibt es an diesen Tagen besonders viel häusliche Gewalt, Streit und Auseinandersetzungen, die Polizei kann dazu Erfahrungen aus ihrer Arbeit beisteuern. Gründe dafür gibt es sicher viele, einer ist die Dissonanz zwischen den öffentlichen Anforderungen einerseits und der individuellen wie gesellschaftlichen Realität andererseits. Vielleicht könnten Sie ja mal für sich dem Sinn des Weihnachtsfestes für Sie nachspüren und ggf. einen neuen Sinn für sich selbst entdecken? Vielleicht wäre ein guter Vorsatz für das neue Jahr, einmal das persönliche Wertesystem zu betrachten und sich Gedanken zu Sinnhaftigkeit von vielem, was einem so im Leben begegnet und was man selbst (mit-)macht, anzustellen. Und wenn Sie solche Überlegungen auch einmal auf Ihre Organisation bezogen anstellen, Ihr tatsächlich gelebtes Wertesystem in der Organisation erkennen und überprüfen wollen … wir unterstützen Sie gerne! Sie wissen ja, wo Sie uns finden. Nochmal ein Hinweis für die Zahlenmenschen: Solche Prozesse kosten zwar, erbringen aber richtig Geld …
Wir wünschen Ihnen ein schönes und intensives Fest, einen gelungenen Jahreswechsel und zum neuen Jahr das Allerbeste!
Viele Grüße
Ihr Thomas Zimmermann
und das Team von synthesis