Es ist – aus gegebenem Anlass – wieder an der Zeit, über Moral und Verantwortung zu reden. Den Anlass bietet Martin Winterkorn, ehedem Chef von VW:
Wenn er – eine erste Annahme – nichts gewusst hat, so ist dies entweder ein Zeichen dafür, dass ihm der Überblick fehlte oder dafür, dass ein Regime aus Angst und Schrecken, welches er zu vertreten hat, relevante Informationsflüsse behindert bzw. ausgeschlossen hat. Wenn er – eine zweite Annahme – etwas gewusst hat, dann ist es meiner Meinung nach ein Zeichen bodenloser Verantwortungslosigkeit und der Ausdruck ungezügelter Gier. Die Dieselaffäre hat und wird dem Konzern Milliardenverluste einfahren, Tausende von Arbeitsplätzen gefährden und weitere, noch nicht absehbare Konsequenzen haben (siehe auch Unternehmerbrief vom Oktober 2015). Der, unter dessen Verantwortung das geschah, hat bislang – und wird es vermutlich auch nicht tun – keinerlei erkennbare Zeichen von Verantwortungsbewusstsein oder gar der Bereitschaft, wenigstens einen anerkennenden Schadenersatz zu leisten, gezeigt, sondern zunächst die Bühne geräumt und dabei noch mehrere Millionen für das angefangene Beschäftigungsjahr 2015 eingestrichen.
Ein Einzelfall in unserer Wirtschaft? Beileibe nicht!
Man erinnere sich an Jürgen Schrempp, dessen von ihm initiierte misslungene Fusion zwischen Chrysler und dem Daimler-Konzern letztlich Milliarden gekostet hat und vor allem ihm (und in der Folge zahlreichen anderen Top-Führungskräften auch anderer Unternehmen) nutzte, weil er durch diese Fusion das amerikanische Entlohnungssystem für die Top-Manager einführen und sich so sein Salär drastisch erhöhen konnte. Auch die Führungskräfte anderer Konzerne profitierten von diesem „Schachzug“, womit sich die Kluft zwischen dem Durchschnittseinkommen in einem Unternehmen und den Spitzengehältern vervielfachte. Oder denken wir an Josef Ackermann von der Deutschen Bank: Sein Engagement hat den Aktionären zunächst zwar zu ansehnlichen Gewinnen und ihm zu einem Millioneneinkommen verholfen, aber noch heute und in den nächsten Jahren haben seine Nachfolger mit den Konsequenzen der teils windigen Geschäfte, die zu diesen Gewinnen beitrugen, zu kämpfen. Und mit Dividende ist es auch nichts.
Nein, es geht hier nicht um eine Neiddebatte. Ich bin durchaus der Meinung, dass Leistung, Risiko- und Verantwortungsbereitschaft sowie die Übernahme von Verantwortung mit allen Konsequenzen belohnt werden sollen. Wer an der Spitze steht und leistet, soll auch entsprechend verdienen.
Es geht um etwas viel Wichtigeres: Der oben erwähnte Herr Winterkorn, so berichtete es am 14.08.2016 die F.A.Z., plant ein Comeback. Ihm lägen verschiedene Angebote von DAX-Unternehmen vor, in den Aufsichtsrat einzuziehen – wenn er nicht im Dieselskandal verurteilt würde. Eine solche Verurteilung hält die von VW beauftragte Anwaltskanzlei Jones Day aber für wenig wahrscheinlich, denn alles sei hinter seinem Rücken gelaufen, er trage keine persönliche Schuld.
Das Stichwort heißt: Verantwortung übernehmen. Verantwortung übernehmen nicht in dem Sinne, wie dies oft passiert, nämlich den Job quittieren, eine mehr als auskömmliche Abfindung kassieren und den anderen die Aufräum-arbeiten zu überlassen. Ich verstehe unter Verantwortung übernehmen auch, Konsequenzen zu tragen, den eigenen Anteil am Geschehen zu reflektieren, vielleicht auch auf die eine oder andere Weise Schadenersatz zu leisten, wenigstens symbolisch. Das bedeutet allerdings, dass man die eigenen Anteile an den Geschehnissen erkennt (wie das oft von nachgeordneten Mitarbeitern erwartet wird) und die „Schuld“ nicht irgendwelchen anderen Personen zuschiebt. Das ist eine Herausforderung, die anzunehmen sicher schwer ist und zu der nur wenige Führungskräfte in der Lage sind. Verantwortung übernehmen heißt nicht, zu gehen, nach kurzer Zeit wieder aufzutauchen, sich in Unschuld sonnen (weil nichts nachgewiesen werden konnte), und vielleicht genauso weiterzumachen, ohne auch nur eine Spur von persönlicher Erkenntnis zu zeigen (außer, dass man beim nächsten Mal vielleicht besser aufpassen muss). Verantwortung übernehmen heißt auch nicht, sich für den Rest des Lebens aus der Gesellschaft zurückzuziehen und im Büßergewand zu wandeln, sondern zu erkennen, zu lernen, wo möglich -in einem ange-messenen Rahmen- Wiedergutmachung zu leisten und Wissen und Kraft der Organisation weiterhin zur Verfügung zu stellen.
Um es deutlich zu machen: Es geht hier nicht um moralisieren oder Zuschreibungen vom besseren oder schlechteren Menschen. Es geht um etwas viel wichtigeres, zentraleres, um etwas, was Unternehmen zusammenhält, attraktiv macht, Engagement beflügelt und Voraussetzung für dauerhaften Erfolg ist. Es geht um gelebte Werte. Und Verantwortung übernehmen heißt, einen postulierten Wert auch sichtbar zu leben.
In vielen Unternehmen existieren Broschüren über Unternehmenswerte, entweder im Hause erarbeitet oder auch irgendwo abgeschrieben. Diese Werte, oft auch an vielen Wänden im Unternehmen eingerahmt und auf-gehängt, werden vor allem dann beschworen, wenn der Wind da draußen rau weht bzw. besondere Leistungen gefordert werden. Nach den ganzen Bestechungsgeschichten bei Siemens und anderen haben viele Firmen einen Code of Conduct eingeführt, Compliance-Richtlinien erarbeitet und ganz oben in der Hierarchie einen Beauftragten installiert, der deren Einhaltung über-wachen soll. Und dann stellen die Mitarbeiter ungläubig staunend fest, dass diese Vorgaben beileibe nicht für alle Beschäftigten des Unternehmens gelten. Manche der Beschäftigten haben das auch schon lange gewusst, denn nicht alles, was auf Hochglanzpapier gedruckt wird, wird in der Praxis auch umge-setzt und erlebbar gemacht. Sehr bewusst habe ich von „oben“ gelebten Werten geschrieben! Wenn solche Werte nicht von allen offen gelebt werden, sind sie das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind und taugen allenfalls noch für Witze, die in der Kaffeepause unter den Kollegen gerissen werden. Außer Spesen nichts gewesen!
Seit einiger Zeit wird das agile Unternehmen mit der agilen Führung als die Lösung zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit in einer zunehmend komplexeren Welt beschworen. Zu den wesentlichen Merkmalen eines agilen Unternehmens gehört die weitgehende Auflösung von Hierarchien und damit auch vieler (oft nur scheinbarer) Kontrollmöglichkeiten. Stattdessen werden Regelwerke abgesprochen, die für jeden verbindlich sind. Das agile Unter-nehmen verlangt daher u.a. die Übernahme von Verantwortung durch den einzelnen, Vertrauen auf die Leistung der anderen, Offenheit im Umgang miteinander, lösungsorientiertes Denken u.v.m. In dieser Aufzählung erkennen Sie bereits viele Werte wieder, die in den entsprechenden Papieren nahezu aller Unternehmen auftauchen. Sie sind also etwas wert, weil sie den Erfolg des (auch agilen) Unternehmens nicht nur stützen, nein, sie sind Voraus-setzung dafür! Ein unglaublicher Schaden ist es deshalb, wenn diese Werte zumindest für einen kleineren, aber einflussreichen Kreis von Menschen, die sie gerade noch propagiert haben, letztlich keine Bedeutung haben. Weshalb soll ich mich dann daran halten, fragt sich da der/die Einzelne und gibt sich gleich selbst die Erklärung: Es ist wie immer, die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Man muss in diesem Zusammenhang gar nicht durch die moralische Brille schauen (kann aber durchaus), die betriebswirt-schaftliche tut es auch: Denn nicht nur die Beschäftigten von VW schauen auf das Verhalten der Herren Winterkorn, Schrempp, Ackermann und anderen, sondern auch die vieler anderer Unternehmen, und nehmen in der Folge ihrer Beobachtungen eine gewisse Reserviertheit, auch und gerade im Kontext des eigenen Unternehmens, gegenüber all diesen dort propagierten Werten ein: Lass sie reden, das ist eh nicht ernst gemeint, die Praxis sieht anders aus. Wie aber kann man in immer schwierigeren Märkten Unternehmen auf der Erfolgsspur halten, wenn die Mannschaft unengagiert und demotiviert ihren Dienst nach Vorschrift (wenn das überhaupt geschieht) machen, weil ein gemeinsamer und von allen akzeptierter sowie gelebter Wertekanon, das Gerüst für die Zusammenarbeit, fehlt? Selbst Vorschriften sind eine Sache, die nicht nur nicht alles abdecken können, sondern nur mit einem gewissen Maß an moralischer Haltung der Einzelnen umsetzbar werden und ihre Wirkung entfalten.
Ich hätte da aber noch eine andere Perspektive anzubieten, und auch die ist nicht in erster Linie (nur) moralisch: Die Perspektive des Rechts- bzw. Unrechtsbewusstseins. Dass alle Menschen immer mal wieder Fehler machen, ist nicht neu und hinlänglich bekannt. Nur – was kommt danach? Lessons learned, wie so oft propagiert? Welche? Oft spürt man bei einem Fehlverhalten oder nicht angemessenem Verhalten bei der betroffenen Person nicht Einsicht, sondern hört man ein fast trotziges „Das steht mir zu!“ (siehe hierzu auch Unternehmerbrief vom Februar 2010). Oder: Ich habe nichts falsch gemacht, alles bewegt sich in juristisch einwandfreiem Rahmen. Oder: Man hat mir/ konnte mir nichts nachweisen usw. Aber nicht alles, was juristisch einwandfrei ist oder jemandem „zusteht“, ist auch gesellschaftlich, wirtschaftlich oder meinetwegen moralisch angemessen. Was in manchen Fällen fehlt oder zumindest nicht erkennbar ist, ist bei den betreffenden Personen Einsicht in die Folgen ihrer Handlung (die von den Mitarbeitern in alle tatsächlichen oder scheinbaren Notwendigkeiten permanent gefordert wird) oder gar so etwas Altertümliches wie Reue. Fehler oder Fehlverhalten sind immer Lernchancen, auch darüber besteht meines Wissens nach Konsens. Deshalb wäre es gut, wenn man gelegentlich z.B. in den auf Seite 1 genannten Kontexten bei den handelnden Personen auch Lern- und Erkenntnisprozesse erkennen könnte! Das hätte viele Vorteile: Zum einen den Erkenntnisgewinn für die betreffende Person, zum anderen der Hinweis für die interne (Mitarbeiter) und die externe Umwelt, dass jemand den Fehler erkennt bzw. erkannt hat, daraus etwas für sich ableitet, und letztlich auch für die Unternehmenskultur und die so dringend erforderliche Offenheit, nicht nur in agilen Unternehmen. Achtung: Das hat nichts mit den in totalitären Regimen so beliebten Selbstbezichti-gungsaktionen zu tun! Vielmehr geht es darum, dass Führungskräfte (und auch ggf. Mitarbeiter) wirklich Verantwortung übernehmen, ihre Lernfähigkeit, Lernbereitschaft und Selbstreflektionsfähigkeit beweisen und damit für ihre Handlungen im und für das Unternehmen ebenso gerade stehen wie sie das im privaten Leben tun müssen. So können sie auch einer schon einmal erwähnten Empfehlung von Robert Dilts entsprechen: Walk your talk.
Was meinen Sie, welche positiven Reaktionen es ausgelöst hätte, wenn Herr Winterkorn wenigstens seine moralische Verantwortung im Dieselskandal öffentlich übernommen und sich anschließend aus allen seinen Ämtern zurückgezogen hätte? Und dann sich in Aufgaben, die dem Gemeinwohl dienen, mit seiner vielseitigen Expertise engagiert hätte? Vielleicht war ihm das nicht möglich, weil er schon so lange im System VW drinhängt und seine Karriere sicher nicht vom Gedanken, etwas selbstlos für andere zu tun, befördert wurde. Vielleicht hatte er auch Angst vor den amerikanischen Anwälten, die ein solches Vorgehen sicher gegen ihn und den Konzern interpretiert hätten. Ich vermute allerdings, dass dies weniger eine seiner Überlegungen war, denn er musste, Zeitungsberichten zufolge, von den Eigentümern geradezu aus seinem Amt gedrängt werden. Ein genialer Zug wäre es dennoch von ihm gewesen, ein Zug, der für das gesamte Unternehmen und den jetzt erforderlichen Veränderungen in der Unternehmenskultur und letztlich auch für sein persönliches Ansehen unglaublich positive Folgen gehabt hätte. Es wäre deutlich geworden, dass sich auch der Vorstands-vorsitzende an die propagierten Werte des Unternehmens gebunden fühlt.
Was passiert, wenn dieser Gedanke der wirklichen Verantwortungsüber-nahme, wie vorgestellt, nicht praktiziert wird? Dann schreitet der Werteverfall voran. Aktuelles Beispiel Olympia 2016: Erst steht der Präsident des IOC in der Dopingfrage nicht zu seinem Wort, dann wird ein enger Vertrauter von ihm wegen Ticketfälschungen verhaftet, eine Reihe von Ringrichtern werden von ihrem Amt wegen Käuflichkeit suspendiert, die ersten Dopingfälle sind, fast wie erwartet, inzwischen auch bekannt usw. usw. Der olympische Gedanke wird entwertet, Moral spielt keine Rolle, erlaubt ist alles, man darf sich nur nicht erwischen lassen. Politische wie wirtschaftliche Systeme werden ohne einen für alle verbindlichen und gelebten Wertekanon instabil mit allen Konsequenzen. Mehr wird nicht passieren, das reicht schon.
Vielleicht denken Sie jetzt: Auf welchem Planeten lebt denn der? Das ist ja alles so was von weltfremd … Ich halte diese Gedanken (sonst hätte ich sie ja auch nicht aufgeschrieben) für absolut realitätsnah, moralisch wie betriebs-wirtschaftlich für äußerst sinnvoll und eine wichtige Voraussetzung für Unter-nehmenserfolg. Scheinmoral wird von allen Menschen schnell als solche identifiziert und führt zu unerwünschten Reaktionen – nie zugunsten des Unternehmens. Und deshalb ist es wichtig, dass wir nicht nur auf andere schauen, sondern auch an uns selbst arbeiten.
Wie immer stehen wir gerne zu einem weiteren Gedankenaustausch zu diesem Thema zu Ihrer Verfügung. Sie wissen ja, wo Sie uns finden!
Herzliche Grüße
Ihr Thomas Zimmermann
und das Team von synthesis