Wir sind noch einmal davongekommen! Sind wir noch einmal davongekommen?

Wir sind noch einmal davongekommen! Sind wir noch einmal davongekommen?

Sicher erinnern Sie sich: Vor einem Jahr war „die Krise“ in aller Munde und die Frage war eigentlich nur, wann genau und mit welcher Wucht sie uns alle aus der Bahn schleudern würde. Trotz bitterer Unternehmenszusammenbrüche (Karstadt, Quelle, Märklin, Schießer und andere) herrscht heute aber das Gefühl vor, dass es noch schlimmer hätte kommen können. Und keiner weiß, was 2010 kommen wird und wie viel Schulden wir noch unseren Kindern aufbürden werden.

Eine Meldung des Jahres 2009 ist mir in Erinnerung geblieben, und sie sollte  uns alle aufhorchen lassen. Beim früheren französischen Staatsunternehmen France Télécom setzten innerhalb weniger Monate fast 30 Menschen ihrem Leben ein Ende – viele versuchten es auch und blieben gottlob am Leben. Erkennbar war, dass diese furchtbare Serie mit den zum Teil vollkommen unsinnigen Umstrukturierungsmaßnahmen des Unternehmens in Zusammenhang stand. Nachdem zunächst die Zyniker das Feld beherrschten („In einem Unternehmen mit 100.000 Mitarbeitern ist diese Quote nicht besonders hoch“), besann sich das Unternehmen spät eines Besseren und ergriff diverse Gegenmaßnahmen.

Zunächst erscheint es kaum vorstellbar, dass Menschen aufgrund von Problemen am Arbeitsplatz keine Perspektive mehr für sich sehen. Zwei Sätze aus Abschiedsbriefen lassen aufhorchen und illustrieren die Not und die Perspektivlosigkeit der betroffenen Menschen:

„Ich hatte die Schnauze voll, das war mein Grund. Es kam über mich in dem Moment, als mir erklärt wurde, dass ich zu nichts mehr zu gebrauchen sei.“

„Ich habe mich wegen meiner Arbeit bei France Télécom umgebracht. Das ist der einzige Grund: Permanenter Druck, Arbeitsüberlastung, fehlende Weiterbildung, völlige Desorganisation des Unternehmens, Terrormanagement.“

Frankreich ist weit weg und in Deutschland hat es eine solche „Welle“ noch nicht gegeben. Aber kann „so etwas“ trotzdem bei uns nicht passieren? Wie ist es denn bei uns mit der wirklichen Lebensqualität in Unternehmen bestellt?

Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Karl Marx (ja der!) wird dieses Zitat zugeschrieben, und es ist aktueller denn je.

Zwar hat sich seit den Zeiten, als Marx „Das Kapital“ schrieb, viel in den Betrieben und bei den Arbeitsbedingungen der Menschen geändert – richtig ist es (vielleicht auf einem anderen Niveau) immer noch. Gemessen an den Lebensverhältnissen, an die Marx dachte, gab es seither zahlreiche Veränderungen für die Menschen – aber ist das Sein für die Menschen in den Betrieben wirklich besser geworden? Immerhin meldet der AOK Bundesverband, dass allein seit 1995 die Fehlzeiten wegen psychischer Krankheiten um 80 % gestiegen sind – und das, obwohl doch alles leichter, einfacher, besser geworden ist – dafür aber auch schneller, druckvoller, unsicherer, komplexer. Aus einem traurigen Arsch kommt kein fröhlicher Furz: Der Urheber dieser Aussage ist unbekannt, sie trifft die Sache trotz all ihrer Deftigkeit aber ziemlich auf den Kopf.

Das individuelle Sein in Organisationen findet in 3 Bereichen statt. Im Bereich:
–    der Aufgabenstellung mit ihren Herausforderungen an Kompetenz, Qualität, Zeit, Ethik usw.;
–    des organisatorischen Rahmens mit dem Organigramm, den Zuständigkeiten, Rechten und Pflichten, aber auch der materiellen Ausstattung (Raum) einschließlich Gehalt;
–    der Kontaktqualität mit der Kommunikation und den Beziehungen zu Kollegen, Vorgesetzten, Kunden sowie der Umgangskultur.

Wie sieht das Sein in den Betrieben oft aus?

–    Da trifft man auf Großraumbüros, die manchmal einer Legebatterie nicht unähnlich sind und in denen ein Geräuschpegel herrscht, der konzentriertes Arbeiten nur noch ganz Hartgesottenen ermöglicht.
–    Oder es sind Einzelbüros, die nur noch Traurigkeit verströmen und bei denen ein einfacher Anstrich schon atmosphärische Wunder täte.
–    Es müssen auch nicht immer die neuesten Tische, Regale und Stühle sein – aber funktionieren wäre schon gut.
–    Nahezu überall steigen Anforderungen und Belastungen für die einzelne Person. Die elektronischen Medien verlangen meist nach schnellen Reaktionen, und Zeiten der ruhigeren Arbeit und des Nachdenkens verschwinden mehr und mehr.
–    Auch die Technik macht nicht immer Freude und verzögert durch Dysfunktionalität die Arbeitsprozesse, dafür erhöht sich der Druck.
–    Der (Leistungs-)Druck auf den Einzelnen hat stark zugenommen, die Sorge um den Arbeitsplatz in gleichem Maße. Bloß keine Fehler machen, bloß nicht auffallen, heißt die Devise und führt dazu, dass eine Flut von Absicherungsmails durch die Leitungen geschoben und notwendige Entscheidungen nicht oder verspätet getroffen werden. Hinzu kommt eine Flut von Meetings, an deren Sinn und Nutzen berechtigt gezweifelt werden darf.
–    Unerreichbare Ziele werden vereinbart (realiter: vorgegeben), und jede weitere Verantwortung dann abgelehnt.
–    Werte und Verhaltensregeln werden nicht gelebt und sind so nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind.
–    Die Solidarität wird beschworen, und nach Bewältigung der schwierigen Situation geht es gerade so weiter wie vorher (oder schlimmer, siehe Nokia).
–    Engagement wird nicht gesehen, geschweige denn honoriert und Lob und Anerkennung sind weitaus seltener als die monatlichen Gehalts-zahlungen (soweit diese überhaupt regelmäßig geleistet werden).
–    Versprechungen werden nicht eingehalten und deren Nichteinhaltung auch nicht begründet.

Diese Liste ließe sich problemlos fortführen, es gibt nichts, was es in Betrieben nicht gibt. In meiner langen Beratererfahrung habe ich unendlich viel erlebt, was ein Außenstehender nicht für möglich hielte (und ich bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht) – es ist/war alles wahr. Wir sitzen alle in einem Boot, gilt nur so lange, wie wir uns in unruhigen Wassern bewegen. Und selbst da gilt: Die einen sitzen etwas bequemer, die anderen müssen rudern.

Natürlich gibt es in vielen Unternehmen auch soziale Angebote (z.B. Kindergärten, Kantinen), Sonderzuwendungen, Sozialberatung, leistungsabhängige Vergütung u.v.m. Und dann scheinen die Leute oft immer noch nicht zufrieden, engagieren sich im und für das Unternehmen nicht, wie gewünscht, stellen Sonderforderungen, werden krank oder verlassen gar, völlig undankbar, das Unternehmen.

Haben oder Sein?

Haben oder Sein? Diese Frage stellte Erich Fromm schon vor 33 Jahren und löste mit seinem gleichnamigen Buch weltweit eine intensive und kontroverse Diskussion aus. Seine Gedanken haben auch in unserem computergesteuerten Zeitalter nichts von Ihrer Aktualität verloren. Denn: Meist wird die Haben-Seite in Organisationen so gut wie möglich befriedigt (der Mitarbeiter hat doch alles, was will der noch?), und die Sein-Seite kommt zu kurz. Interessant ist die häufig anzutreffende Tatsache, dass Unternehmen viel in Regelungen (oft auch gesetzlich gefordert), Strukturen, Prozesse und auch Maschinen sowie in Schulungen zu allen möglichen (Sach-)Themen investieren – und zum Schluss doch nicht das erwartete Ergebnis produziert wird. Woran liegt das? Hat man doch die besten Berater und die besten eigenen Köpfe mobilisiert, und doch nicht erreicht, was man wollte? Wurde in die materielle Ausstattung (= Haben) investiert und die emotionale Ausstattung (= Sein) dabei vernachlässigt?

Mitarbeiter und Führungskräfte – alles arme Teufel und situations- bzw. marktgetrieben? Mitnichten, zum Streiten gehören ja auch immer zwei, und wenn nur einer nicht mitmacht, gibt es auch keinen Streit. Wie aber soll sich aus solchen Erfahrungen, wie oben genannt, ein Bewusstsein bei den Mitarbeitern speisen, das alle Unternehmen gerne hätten?
–    Dass sich die Mitarbeiter mit dem Unternehmen identifizieren;
–    Dass sie sich von selbst engagiert und mit Verstand der Erledigung ihrer Aufgaben widmen;
–    Dass sie bei der Arbeit mitdenken, die größeren Zusammenhänge erkennen und über den Tellerrand sehen;
–    Dass sie zielorientiert denken und handeln;
–    Dass sie sich für ihre Arbeit verantwortlich fühlen und Verantwortung übernehmen;
–    Dass sie ein Verständnis und ein Bewusstsein für die erforderliche Qualität entwickeln;
–    Dass sie kollegial zusammenarbeiten und Wissen und Können freizügig weitergeben;
–    Dass sie ihre Konflikte lösungsorientiert bearbeiten;
–    Dass ihnen klar ist, dass der Unternehmenserfolg von den Beiträgen aller abhängt.

Der Weg zu diesem von vielen Unternehmern und Führungskräften so gewünschten Bewusstseinszustand ist ebenso einfach wie schwierig. Er führt über das Sein-Können und Sein-Dürfen des Individuums und das persönliche Erleben in der Organisation:
–    Die materielle Ausstattung entspricht den Erfordernissen;
–    Aufgaben, Erwartungen und Ziele sind klar definiert und werden subjektiv als erfüllbar angesehen;
–    Es herrscht so viel Transparenz, dass Mitarbeiter die sie betreffenden Zusammenhänge und den Sinn ihrer Arbeit verstehen können;
–    Leistungen werden erkannt und gewürdigt;
–    der Umgang ist von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung sowie größtmöglicher Klarheit geprägt;
–    alle Mitarbeiter sind als Menschen gleich wertvoll, sie erfüllen nur unterschiedliche Funktionen;
–    Pacta  sunt servanda – Zusagen werden eingehalten bzw. deren Nichteinhaltung ausführlich begründet;
–    Mitarbeiter werden mit allen für sie relevanten Informationen versorgt;
–    Die vereinbarten Werte für Führung und Zusammenarbeit im Unternehmen werden wirklich gelebt, Abweichungen können angesprochen und diskutiert werden, Kongruenz ist zentral;
–    Mitarbeiter erhalten angemessene Weiterbildungsmöglichkeiten (bei denen sie auch selbst einen Leistungsanteil beitragen);
–    Führungskräfte pflegen (auch) persönlichen Kontakt zu den Mitarbeitern und kennen die Stärken und Entwicklungsfelder Ihrer Mitarbeiter, denn Kontaktqualität ist das A und O einer jeden Führungsbeziehung;
–    Vertrauen wird im richtigen Maße zweiseitig gelebt und es wird nicht nur darüber gesprochen.

Den Menschen wahrnehmen

Menschen wollen in ihrem Leben (in unterschiedlichem Maße) etwas leisten und vollbringen. Diese grundsätzliche Leistungsbereitschaft gilt es zu erschließen. Es geht weder um das Einebnen hierarchischer Unterschiede und die Einführung basisdemokratischer Spielregeln, noch um die Einrichtung einer Kuschelstube, sondern um die Schaffung einer Atmosphäre, in der Menschen gerne ihre Talente und ihr Engagement einbringen, in der sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Ziele verwirklichen können. „Hier bin ich Mensch, hier darf ich es sein“, sagt Goethes Faust und bringt damit die Sache auf den Kern. Dabei geht es nicht um die Einrichtung „beschützender Werkstätten“, sondern darum, dass sich jeder Mitarbeiter als wichtiger und wertvoller Mensch in einer Organisation wieder finden und erleben kann und so Identifikationsmöglichkeiten bekommt. Wenn das gegeben ist, entsteht ein anderes Bewusstsein für den Betrieb, die Ziele, die zu erledigende Arbeit, für die Kollegen und das große Ganze. Ein Bewusstsein bei Mitarbeitern, das für jedes Unternehmen in der heutigen Zeit, wo sich alles rasch wandelt und die Dinge immer komplexer werden, einen unschätzbaren Vorteil darstellt. Ein Bewusstsein, das keine Mehrkosten verursacht, aber unendlich viel mehr Nutzen durch Zufriedenheit bringt.

Der Weg dorthin ist anspruchsvoll, und es muss jeden Tag um die richtigen Schritte gerungen werden. Im Video zu seinem Buch „Der 8. Weg“ sagt Stephen Covey: „Wenn Sie Ziele erreichen wollen, die Sie noch nie erreicht haben, müssen Sie Dinge tun, die Sie noch nie getan haben.“ Wer zuerst diesen Weg beschreitet, wird auch zuerst erfolgreich sein. Das Jahr 2010 wird noch mancherlei Überraschungen für uns bereithalten, und wer dann die richtigen Leute mit dem richtigen Bewusstsein an Bord hat, wird größere Überlebens- und Erfolgschancen haben.

Gerne begleiten wir Sie beim Entdecken und Beschreiten des für Ihr Unternehmen besonders geeigneten Weges. Sprechen Sie uns an: Das neue Jahr ist ein guter Anlass, Bewährtes auf den Prüfstand zu stellen und Neues zu wagen.

In diesem Sinne wünschen meine Kollegen und ich Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein erfolgreiches neues Jahr!

Herzliche Grüße,

Ihr

Thomas Zimmermann